Lehrte: Die Bahnhofsmission vor Weihnachten

„Die Lage zieht einen schon ziemlich nach unten, gerade in der Weihnachtszeit“, sagt Helmut und nimmt einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Helmut ist 63 Jahre alt, und die Bahnhofsmission in Lehrte ist so etwas wie ein zweites Zuhause für ihn. Dreimal in der Woche kommt er dorthin. Jetzt sitzt er mit Bernd (76) an einem Tisch. Die beiden plaudern ein wenig, erzählen, wie es ihnen gerade geht. „Manchmal redet man auch über private Dinge, oft aber über Oberflächliches“, sagt Helmut. Er ist froh über die Möglichkeit, am Lehrter Bahnhof eine warme Mahlzeit zu bekommen. „Ich muss mich zu Hause in Peine um meinen behinderten Sohn kümmern. Das ist mit dem Geld von Harzt IV nur schwer möglich“, erklärt er mit leiser Stimme. Nach dem Essen und dem Kaffee bedankt er sich bei den Helferinnen. „Die sind alle toll und sehr hilfsbereit“, sagt Helmut. Und Bernd, der aus Hannover kommt, ergänzt: „Das ist wirklich klasse hier.“ „Wir behandeln alle Menschen gleich“: Die Bahnhofsmissionen in Deutschland feiern in diesem Jahr ihr 125-jähriges Bestehen. In Lehrte entstand die Einrichtung auf Initiative der Kirchengemeinde – die Markusgemeinde ist nach wie vor Träger der Einrichtung – nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1946. Seither nutzen hilfsbedürftige Menschen diesen Raum an Gleis elf, um Hilfe zu finden, eine Auskunft zu erhalten oder einfach, um es für einen Moment warm zu haben und ein Gefühl der Geborgenheit zu erfahren. „Wir behandeln alle Menschen gleich und stellen keine Fragen“, sagt Christine Busch-Saile, die seit etwa sechs Jahren bei der Bahnhofsmission aktiv ist. Aber wer sich den Helfern anvertrauen möchte, kann das selbstverständlich tun. „Wir haben immer ein offenes Ohr“, erklärt Traute Schulze-Heinrich, die an diesem Tag kurz vor Weihnachten mit ihrer ehemaligen Arbeitskollegin Busch-Saile den Dienst verrichtet. Im Laufe ihrer Tätigkeit hat die frühere Altenpflegerin allerdings gelernt, nicht jedes Wort von allen Gästen für wahr zu halten. „Einige wollen gerne bemitleidet werden“, sagt sie. Andere hätten aber tatsächlich schwere Schicksalsschläge hinter sich. „Manche sind auch unverschuldet in ihre missliche Lage geraten“, weiß sie. Beispielsweise durch plötzliche Arbeitslosigkeit könne sich die Spirale schnell nach unten drehen. Stress mit der Frau, Trennung, Verlust des Hauses, Schulden –und plötzlich ist man ohne festen Wohnsitz. Nicht viel Zeit zum Grübeln: An diesem Tag sitzt ein älterer Herr allein an einem Tisch der Bahnhofsmission. Busch-Saile kennt ihn von früheren Begegnungen, spricht ihn direkt an: „Ihre Wange ist ja dicker geworden. Sie müssen dringend zum Zahnarzt“, sagt sie ihm. Sie verweist auf das Zahnmobil in Hannover. Der Mann nickt, er kennt die Einrichtung, will sie aber nicht besuchen. Ist es Scham, ist es zu großer Stolz? Niemand weiß es. Busch-Saile zuckt mit den Schultern. Sie ist nun ratlos und muss es akzeptieren, dass sich der Mann mit seinen Zahnschmerzen alleine herumplagt. „Es ist wichtig, solche Schicksale nicht zu nah an einen heranzulassen“, sagt Schulz-Heinrich. „Da wir in der Pflege gearbeitet haben, können wir das ganz gut“, ergänzt Busch-Saile. Viel Zeit zum Grübeln bleibt nicht. Denn zwischen 11 und 14 Uhr finden immer wieder Menschen den Weg in die Einrichtung. Schon der Eingangsbereich ist weihnachtlich dekoriert, ebenso der große Aufenthaltsraum. Auf einem Schrank steht ein geschmückter Tannenzweig, davor ein gerahmtes Foto eines Mannes. Dabei handelt es sich um einen Künstler, der regelmäßig die Bahnhofsmission besuchte und kürzlich verstorben ist. „Bei vielen wissen wir nicht, was mit ihnen passiert ist, wenn sie irgendwann nicht mehr zu uns kommen“, sagt Schulze-Heinrich. Kein Eintritt für Alkoholisierte: Im Jahr 2018 hatten rund 6300 Menschen die Einrichtung besucht. Im Jahr zuvor sind es 4700 gewesen. Den Anstieg können sich die Mitarbeiterinnen nicht erklären. In diesem Jahr sind es wieder weniger als 2018. Und gelegentlich negative Erlebnisse gibt es leider auch. Alkoholisierte Menschen oder Drogenabhängige, die gerade nicht Herr ihrer Sinne sind, erhalten keinen Eintritt. Wer drinnen pöbelt oder randaliert, muss gehen. Diese Problemfälle halten sich laut Team allerdings in Grenzen. Die meisten Gäste jedenfalls sind dankbar für das in den Räumen an Gleis elf angebotene Essen. „Danke, das war lecker, schönen Tag noch“, sagen viele und ziehen weiter. Gelegentlich gibt es in der Vorweihnachtszeit sogar kleine Geschenke von Besuchern. Ein Teelicht in einem verzierten Glas etwa. „Das hat eine Frau von ihrem wenigen Geld für uns gekauft“, berichtet Busch-Saile. „Das erwarten wir nicht, aber wir freuen uns natürlich drüber.“ Spenden sind immer gern gesehen: Plötzlich stürmt ein Mann mit einem Lächeln in das Büro und drückt den beiden Mitarbeiterinnen eine Tüte in die Hand und verschwindet schnell wieder. In der Tüte ist ein großer Stollen. Denn Spenden sind bei der Lehrter Bahnhofsmission immer willkommen – nicht nur zu Weihnachten. Beispielsweise unterstützt die Lehrter Tafel die Einrichtung mit Konserven, ein Blumengeschäft überlässt Tischdekorationen, eine Bäuerin spendet im Sommer Spargel. „Ein Pfund Kaffee als Spende geht aber auch immer“, sagt Busch-Saile. Die Bahnhofsmission am Gleis elf des Bahnhofs Lehrte ist montags bis freitags jeweils von 10 bis 15 Uhr geöffnet. Während der Weihnachtsfeiertage ist sie allerdings geschlossen. Ehrenamtliche Helfer werden stets gesucht. Lesen Sie auch: Als Politikerin Thordies Hanisch die Bahnhofsmission besuchte Als der neue Bürgermeister in der Bahnhofsmission Hühnerfrikassee kochte Das sagt Markus-Pastor Andreas Anke zur Lehrter Bahnhofsmission Von Mark Bode