Neustadt: So lebt der Obdachlose Mirco in Corona-Zeiten auf der Straße

„Die Leute machen einen Bogen um mich. Mehr als sonst.“ Mirco, der findet, dass sein Nachname nichts zur Sache tut, sitzt wie so oft an seinem angestammten Platz an der Marktstraße Neustadts und erzählt von den Auswirkungen, die die Corona-Krise auf ihn, den wohnungslosen Landfahrer, und auch auf das Miteinander der Menschen hat. „Das wird online gepusht“, sagt er, „dass Obdachlose Überträger sind.“ Dabei sei er doch nicht mehr und nicht weniger Überträger als all die anderen auch, die an diesem sonnigen Frühlingstag an ihm vorbeiflanieren. Diese Stigmatisierung ärgert ihn schon ein wenig. Dennoch sagt er: „Mir geht’s gut.“ Stammkunden lassen sich nicht beirren: Seine Mütze, in der allerhand Kleingeld und auch ein Schein liegen und die er mit Abstand vor sich auf die Straße gelegt hat, beweist es: Seine „Stammkunden“ kämen nach wie vor und würden ihm Geld geben, betont er. Das hilft und macht Mut angesichts jener, die einen weiteren Bogen als in anderen Zeiten um ihn machen. Es ist Markttag in Neustadt. Ein Tag, den Mirco gerne nutzt, um diesen Platz einzunehmen. Er tingelt, ist ein Reisender. Mal verbringt er einen Tag in Wunstorf, mal in Nienburg. Oldenburg und Cloppenburg sind andere Städte, in die er gerne fährt. Das macht der 45-Jährige schon seit 23 Jahren so, und darüber beschwert er sich nicht. Sein Leben ist für ihn so, wie es ist, in Ordnung. Neustadts Füßgängerzone „wie tot“: Leichte Sorgen macht er sich aber dennoch, denn wenn die „Stammkunden“ es auch nach wie vor in seiner Mütze klimpern lassen, so ist doch seit einigen Wochen vieles anders in den Innenstädten. „Ab 11 Uhr ist die Fußgängerzone tot – wie eine Geisterstadt“, sagt Mirco und lässt den Blick rechts und links die Straße herunterschweifen. Bedenklich findet er außerdem die steigende Aggressivität der Menschen. Er hat Zeit, er kann in Ruhe beobachten. Was er dann sieht, gefällt ihm nicht. Gehe er jetzt einkaufen, erzählt er, werde er häufiger angeschnauzt. Aber nicht nur er. Die Grundstimmung vieler Menschen sei anders geworden. Vielleicht seien es ja die Schubser und Drängler aus den Zeiten vor dem Virus, die sich nun mit Worten ein Ventil suchten, sinniert Mirco. Immerhin: Die Leute hätten es gelernt, Schlangen mit Abstand zu bilden. Für sich persönlich vermisst er die geöffneten Cafés. Gegen Abend, erzählt er, setze er sich gerne dort hinein, um sich bei einem heißen Getränk aufzuwärmen. Nun muss er mit dem Fahrrad seinen Schlafplatz in einem Unterstand direkt ansteuern, ohne sich zuvor die Kälte aus den Gliedern treiben zu können. Geht die Sonne unter, ist es doch noch empfindlich frisch. Polizei fährt mit geschlossenen Fenstern vorbei: Etwas enttäuscht sei er über das Verhalten der Polizei, sagt Mirco. Er komme immer gut mit den Ordnungshütern klar. Einen der Teddys, die er an seinem Fahrradanhänger befestigt hat, habe ihm eine „liebe Kontaktbeamtin“ aus Neustadt geschenkt, sagt er und lächelt. Seit das Virus das Leben in Deutschland verändert habe, führen die Beamten aber nur noch mit geschlossenen Fenstern an ihm vorbei. „Wie geht es dir?“ – Diese Frage habe er seitdem nicht mehr gehört. Aber er klagt nicht – oder kaum. Er hat das, was er für seine Art zu leben braucht. Und für ihn habe sich nicht viel geändert. Die geschlossenen Tafeln tangieren ihn selbst nicht. Dort gebe es ohnehin kaum etwas, was er benötige. „Hab’ ich ’nen Backofen?“, fragt er angesichts von Konserven und Nudeln, die er dort bekommen würde. Leichte Sorge treibt Mirco allerdings um, dass es eine Verordnung geben könnte, die Wohnungslose zwingt, in Obdachlosenunterkünfte zu gehen. Das will er auf keinen Fall, will nicht mit anderen zusammengepfercht werden. Dagegen würde er sich wehren, sagt er. Ansonsten gibt er sich hoffnungsvoll, lächelt herzlich und bedankt sich, wenn einer der wenigen Vorübergehenden Geld in seine Mütze fallen lässt. Lächelnd, auch in dieser Krise. Lesen Sie auch: Freundlicher Fahrensmann hat sogar Fans Bordenauer Sporthauschefin spendet für Wohnungslose Sammlung: Obdachlose sollen Weihnachtsgeschenke bekommen Von Beate Ney-Janßen