Ausstellung zeigt die Kinder im KZ Bergen-Belsen
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Simon Maandag aus den Niederlanden kamit mit sieben Jahren 1944 ins KZ Bergen-Belsen. Dieses Foto entstand kurz nach der Befreiung des Lagers im April 1945. Es wurde in einer Sonderausgabe des LIFE-Magazins in den USA abgedruckt.
© Quelle: George Rodger
Bergen-Belsen. Es ist eine leise inszenierte und doch erschütternde Ausstellung, die in der Gedenkstätte Bergen-Belsen am Sonntag eröffnet wird – am Jahrestag der Befreiung des Lagers am 15. April 1945.
Strukturiert, fast kühl wirkt der Ausstellungsaum mit seinen Bildschirmen und den in klaren Linien angeordneten Stationen. Schwarz, Weiß, Grau – und ein paar wenige rote Farbakzente bestimmen das Bild. Neben alten Fotos von Mädchen und Jungen finden sich Zitate ehemaliger Kinderhäftlinge im KZ an den Wänden. Sätze, die aus heutiger Sicht unvorstellbar scheinen.
„Ich habe als Kind gewusst, wer nicht atmet, der ist tot, den muss man beim Fuß fassen und aus der Baracke schleppen“: Dieser Satz stammt Esther Weiszfeller. Sie ist ein „Child Survivor“. Eines jener etwa 3500 Kinder, die die SS zwischen 1943 und 1945 in das Konzentrationslager Bergen-Belsen verschleppt hat. Genau weiß es keiner: Kurz vor der Befreiung wurden sämtliche Lagerregistraturen verbrannt. Rund 800 Kinder – so die Schätzung der Forscher – sind in Bergen-Belsen ermordet worden, qualvoll erfroren, verhungert und an Krankheiten gestorben. Esther Weiszfeller nicht. Sie hat als Elfjährige überlebt und mit Dutzenden anderer Zeitzeugen den KZ-Kindern jetzt eine Stimme gegeben.
Thema erstmals aufgearbeitet
„Es ist die erste Ausstellung in Deutschland, die das Leben der Kinder im KZ aufarbeitet“, sagt Jens-Christian Wagner, Geschäftsführer der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten. „Kinder wurden lange als Zeitzeugen zweiter Klasse betrachtet. Woran können sie sich schon erinnern?“ Jetzt, da die erwachsenen Zeitzeugen weniger werden, sind es die Kinder, die reden dürfen. Und Erinnerungen haben sie alle, die Erlebnisse haben sich schmerzhaft eingebrannt. Das zeigt die Ausstellung auf eindrucksvolle Weise in Form von Videoaufnahmen, Tonsequenzen, mit Spielzeug, Briefen und Zeichnungen.
400 Interviews, 120 davon mit einstigen Kinder-Häftlingen, sind die Grundlage für die Ausstellung, die sich im Kern auf fünf Lebensbereiche der KZ-Kinder konzentriert – sie reichen von der Unterbringung über den Alltag, die Familie, die Hoffnungen bis hin zur Gewalt und das allgegenwärtige Sterben.
Rund 200 Kinder im KZ geboren
„Ankunft, Unterkunft, Kleidung, Essen“ steht in großen Buchstaben neben Schwarzweißbildern von Kindern. „Bergen-Belsen hatte eine hohe Anzahl von Kindern“, berichtet Wagner. Denn es gab ein Austauschlager für Familien, die als Geiseln genommen worden waren und gegen Inhaftierte im Ausland getauscht werden sollten. Im Austauschlager war die Sterberate am niedrigsten – man brauchte die Häftlinge noch. Im Frauenlager hingegen zeigte sich die Grausamkeit jener Zeit: Hunger, Kälte, Krankheiten, Kinder, die ihren Müttern beim Sterben zusehen mussten. Im Januar 1945 wurde das Frauenlager Auffangstation für Entbindungen: Bar jeglicher medizinischen Versorgung mussten Frauen dort ihre Babys zur Welt bringen. „Etwa 200 Kinder sind in Bergen-Belsen geboren“, sagt Wagner. Kaum eines von ihnen hat überlebt.
Flucht in Fantasiewelten
„Wir haben die Toten gezählt“, antwortet Francine Christoph, die als Elfjährige in Bergen-Belsen war, auf die Frage, womit die Kinder sich die Zeit vertrieben hätten. Vielen Kindern half nur die Flucht in eine Fantasiewelt. „Ich war acht Jahre alt, als meine Mutter unseren Hund erfand“, erzählt Miriam Irsai in der Ausstellung. Jeden Morgen und Abend im KZ habe ihre Mutter ihr erzählt, was der Hund gerade erlebe. Die Nachbildung der alten Stoffpuppe „Mies“ der damals vierjährigen Inhaftierten Lous Hoepelman ist ein besonders emotionales Relikt dieser Zeit – und eines der zentralen Exponate.
„Es ist eine sehr emotionale Ausstellung, keine Frage. Aber genau darin lag auch die Gefahr“, sagt Wagner. Man habe sich bei den Vorbereitungen, die bereits 1999 begannen, zum Ziel gesetzt, nicht „auf die Tränendrüse“ zu drücken. „Wir wollen, dass die Leute nachdenken über das, was sie sehen. Wer von zu vielen Emotionen überwältigt wird, kann das nicht.“ Und so schwingt eine lakonische Nüchternheit zwischen den Geschichten mit. Sachlich, wissenschaftlich aufbereitet, wird das Unvorstellbare zu Gesicht gebracht – realistisch. „Das ist schlimm genug“, sagt Wagner. Und auch diejenigen, die bis heute nicht mehr reden können, finden ihren Platz in der Ausstellung. Auf Bildschirmen wechseln Fotos und der Schriftzug „Name unbekannt“: die jungen Opfer des KZ Bergen-Belsen.
Nach der Befreiung: Kinder beginnen ein Leben ohne Wurzeln
Die Gruppe der sogenannten „unbekannten Kinder“ hingegen hat bis auf ein Mädchen überlebt und sich im Jahr 2000 wiedergefunden. 50 zumeist jüdische Kinder, ohne Namen, ohne Familie und ohne Papiere in Verstecken aufgegriffen, waren 1944 aus dem KZ Westerbork in den Niederlanden nach Bergen-Belsen gebracht worden. „Die Nazis konnten nicht ausschließen, dass sich nicht vielleicht doch Arier unten ihnen befanden“, sagt Wagner. Deshalb wurden sie nicht direkt in einem Vernichtungslager ermordet, sondern nach Bergen-Belsen und später ins Ghetto Theresienstadt gebracht.
Was es bedeutet, wenn einem die Identität, jedes Wissen über die eigene Herkunft fehlt, zeigt der letzte Abschnitt der Ausstellung: die Biografien von 14 Überlebenden. „Viele von ihnen haben ihr Leben lang geschwiegen, sich auf die Gegenwart und ihren Beruf konzentriert“, sagt Wagner. Jetzt, im Alter, arbeiteten sie auf, was ihnen als Kind widerfahren ist. „Sie haben viel zu erzählen“, sagt Wagner.
Bis Ende September tun sie das in der Ausstellung in Bergen-Belsen.
Gedenkfeier am Sonntag
Bis zur Befreiung am 15. April 1945 durch die britische Armee waren 52.000 Männer, Frauen und Kinder im KZ Bergen-Belsen gestorben. Der Tag der Befreiung jährt sich an diesem Sonntag zum 73. Mal. Der Landesverband der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen und die Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten laden zur Gedenkfeier ein. Diese beginnt um 10 Uhr auf dem Kriegsgefangenenfriedhof Bergen-Belsen. Um 14 Uhr wird die neue Ausstellung „Kinder im KZ Bergen-Belsen“ offiziell eröffnet. Die Grußworte sprechen Wepke Kingma, Botschafter des Königreichs der Niederlande, sowie Hans-Christian Biallas, Präsident der Klosterkammer Hannover. Die Einführung in die Ausstellung gibt Diana Gring von der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Rund 20 Zeitzeugen werden erwartet. Bis Ende September ist die Ausstellung in Bergen-Belsen zu sehen. 2019 wird sie als Wanderausstellung an mehreren Orten in der Schweiz gezeigt.
Von Carina Bahl
HAZ