Der Fall Katrin Konert lässt diesen Kommissar nicht los
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Andreas Rusche sucht nach 17 Jahren immer noch nach dem verschwundenen Mädchen Katrin Konert, das an diesem Bushaltestellenwartehäuschen zuletzt gesehen wurde.
© Quelle: Heidrich
Lüchow. Das Büro mit der Nummer 4.2.37 ist vollgestellt und gemütlich. Papier, Pflanzen, Bilder, Kleinkram. Der Mann, der hier arbeitet, wirkt entspannt, wirkt in sich ruhend. Dabei hat er keinen leichten Job. Auf dem Schild neben seiner Bürotür steht: „Tötungs- und Branddelikte“.
Polizeikommissariat Lüchow. Andreas Rusche, der Mann in Raum 4.2.37, ist Kriminaloberkommissar. Sein berühmtester und wichtigster Fall: Katrin Konert. Sein größter Misserfolg: Katrin Konert.
620 Spuren
Jeder in Deutschland hat von dieser Geschichte gehört: Am Neujahrstag 2001, vor 17 Jahren, wurde die damals 15-jährige Schülerin aus Groß Gaddau an einer Bushaltestelle in Bergen/Dumme, alles gelegen im Kreis Lüchow-Dannenberg, zum letzten Mal gesehen. Wo ist sie geblieben? Was ist passiert? Keiner weiß es. Hinweise, Verdachtsmomente, Spuren – davon gab es genug, 620 insgesamt, Rusche hat mehr als 70 Ordner über den Fall Konert in seinen Aktenschrank gezwängt. Aber Fahndungsergebnisse? Null.
„Natürlich ist es frustrierend, dass man sich den Arsch aufreißt und keinen Schritt weiterkommt“, sagt Rusche. Er klingt, trotz der saloppen Wortwahl, nicht bitter. Eher sachlich: Ist schlimm, ist aber eben so. Und zur Sachlichkeit gehört auch, dass Rusche immer noch nach dem Mädchen sucht. Nicht ständig, nicht mehr so intensiv. Aber immer wieder.
Anfangs war nicht mal klar, ob es wirklich ein Fall war: Am 23. Dezember 2000 hatte es in der Familie Konert Ärger gegeben, Katrin hatte geraucht, der Vater hatte geschimpft, Katrin hatte weglaufen wollen. Aber wenn es so eine Bagatelle gewesen wäre, wäre das Mädchen längst wieder dagewesen. War es nicht.
Krach mit dem Freund
Rusche vernahm Zeugen und Verdächtige. Manche waren beides. Da war der junge Mann, der Katrin noch von einer Pizzeria aus beobachtet hatte. Da war der andere junge Mann, der mit ihr noch kurz gesprochen hatte, direkt an der Bushaltestelle, zu der sie am frühen Abend des 1. Januar 2001 gegangen war. Sie hatte in Bergen einen Freund gehabt, doppelt so alt wie sie, der Vater durfte das nicht wissen. Bei dem Mann war sie gewesen, die beiden hatten sich gestritten, Katrin hatte andere Freunde per SMS angefunkt, ob jemand sie nach Hause bringen könne. Aber niemand konnte, es war kalt, es war glatt, über der Region war Eisregen niedergegangen. Bis Groß Gaddau waren es 15 Kilometer. Zuletzt schrieb sie an eine ihrer Schwestern, sie sei um halb acht zu Hause. Dann waren Akku und Simkartenguthaben erschöpft. Und Katrin Konert war nicht um halb acht zu Hause.
Andreas Rusche wurde 1958 in Wolfenbüttel geboren. Das Krankenhaus, in dem seine Mutter entbunden hat, wurde später in eine Ausbildungsstätte der Polizei umfunktioniert. Deswegen hat Rusche, der in Braunschweig und im nahen Mascherode aufwuchs, seine Laufbahn im selben Gebäude begonnen, in dem er zur Welt gekommen ist. Das musste ja Berufung sein.
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Andreas Rusche ermittelt nach 16 Jahren immer noch nach dem verschwundenen Mädchen Katrin Konert.
© Quelle: Heidrich
Den Freund von Katrin Konert hat Andreas Rusche mehrfach vernommen. „Der ist hoch und quer überprüft worden“, sagt der Polizist. Ohne Ergebnis. Selbst den Vermieter der Konerts nahm Rusche ins Visier, man wisse ja nie, der Mann habe Gelegenheit gehabt, Leichen verschwinden zu lassen. Resultat: keins.
Hypnose, Plakate, TV-Aufrufe
„Bis auf Starfighter-fliegen-lassen haben wir alles gemacht“, sagt Rusche. Hypnose von Zeugen. Familienaufstellungen. Auswertung von Satellitenaufnahmen. Plakate. Fernsehaufrufe bei „Aktenzeichen XY“. Fotos, auf denen das Gesicht des Mädchens künstlich im Alter heraufgesetzt wurde. Anfangs hat die Polizei der Presse erzählt, sie sei nahe dran, den Fall zu lösen. Stimmte nicht, war ein Versuch, den Täter aus der Reserve zu locken. Hat nicht funktioniert.
Im Laufe der Zeit hieß es einmal, Katrin Konert verkaufe Touristenandenken an den Niagarafällen, und ein andermal, sie arbeite als Animateurin in der Türkei. Rusche ging allem nach. Eine Zeugin wollte gesehen haben, das Mädchen habe sich in ein BMW-Fenster gebeugt. Der BMW tauchte am Flughafen Charles de Gaulle in Paris auf. Rusche schickte jemanden vorbei, der das Auto überprüfte. Nichts.
Zu Rusches Arbeit gehört auch die Betreuung der Familie, Eltern, zwei weitere Mädchen, zwei Jungs. Er hat bei den Konerts am Tisch gesessen, hat unzählige Telefonate geführt, hat SMS geschrieben. Hat Fragen gestellt und Mut gemacht und Verständnis gehabt für Angst und Hysterie und Verzweiflung. Hat sie vor den Hyänen unter den Presseleuten geschützt. Hat versucht, nicht zu hart zu wirken, als er selbst nicht mehr an Katrins Überleben glaubte, die Eltern aber immer noch meinten, am nächsten Geburtstag, da sei das Kind ganz sicher wieder da, da stehe es bestimmt urplötzlich in der Tür.
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Polilzisten suchen 2001 nach der vermissten Schülerin.
© Quelle: dpa
Affekt? Zufall?
Rusche weiß, dass es fast nichts Schlimmeres geben kann als ein verschwundenes Kind. Er selbst hat keine Kinder, er weiß es trotzdem. Er wirkt abgeklärt und professionell, aber wenn er davon erzählt, dann arbeitet es hinter seinen Schläfen und in seinen Kiefermuskeln. Die Kontakte zu den Konerts sind selten geworden.
Andreas Rusche glaubt, dass Katrin Konert damals doch noch von irgendwem im Auto mitgenommen wurde, von einem Mann, und wahrscheinlich von einem, der in den Akten steht. Es gab irgendeine Art von Annäherung, Katrin, die Quirrlige, die Burschikose, hat sich gewehrt, und dann ist irgendwas passiert, Affekt, Zufall, man weiß es nicht, müßig zu spekulieren, was. „Ich habe ja nichts“, sagt Andreas Rusche, und für 20 Sekunden scheint ihm das Atmen schwerzufallen. „Ich habe nur ein Mädchen, das weg ist.“
Er hat das, was er nicht hat, noch bis Herbst. Der Kommissar macht den Job jetzt seit 43 Jahren. Er wird pensioniert. Dann wird jemand anderes in Büro 4.2.37, Tötungs- und Branddelikte, einziehen. Aber Andreas Rusche wird Katrin Konert nicht vergessen. Nicht so lange er lebt.
Die Vermissten
In Niedersachsen gelten derzeit 1530 Menschen als vermisst, 300 der offenen Fälle stammen aus dem Jahr 2017. Nach Auskunft des Landeskriminalamtes gehören die meisten Verschollenen, nämlich 495, zu der Gruppe der 14- bis 17-jährigen Jungen. Ihnen stehen 169 Mädchen gegenüber. Auch 170 Kinder, die jünger als 14 Jahre alt sind, werden derzeit vermisst. Im Schnitt verschwinden pro Jahr rund 7000 Kinder und Jugendliche – die meisten tauchen aber rasch wieder auf. Nach Angaben der „Initiative Vermisste Kinder“ aus Hamburg werden in Deutschland täglich zwischen 200 und 300 Kinder und Jugendliche als vermisst gemeldet. Eine in etwa gleich hohe Anzahl an Fällen wird ebenso täglich aufgeklärt. Bundesweit liegt die Zahl der als vermisst gemeldeten Menschen laut Bundeskriminalamt bei knapp 15 000. Davon sind nach Auskunft der „Initiative Vermisste Kinder“ 1983 Kinder im Alter bis 13 Jahre. Bei 6860 handelt es sich um Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren.
Von Bert Strebe