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"Oldenburger Baby"

Der Junge, der seine eigene Abtreibung überlebte

Spielerisches Kräftemessen im Garten: Der 18-jährige Tim mit seinem Pflegevater Bernhard Guido.

Spielerisches Kräftemessen im Garten: Der 18-jährige Tim mit seinem Pflegevater Bernhard Guido.

Quakenbrück. Tim weiß nicht, dass er das „Oldenburger Baby“ genannt wird - das Baby, dass seine Abtreibung überstand. Das dann, von den Ärzten im Kreißsaal der Oldenburger Klinik zum Sterben zur Seite gelegt, neun Stunden lang unversorgt mit Schnappatmung weiterlebte. Seine Mutter hatte die Schwangerschaft nach 25 Wochen abbrechen und eine Fehlgeburt einleiten lassen, weil bei der Fruchtwasseruntersuchung das Down-Syndrom erkannt worden war. Tim sollte sterben. Jetzt ist er 18 und damit erwachsen geworden. „Er hat um sein Leben gekämpft und ist ein Kämpfer geblieben“, sagt Bernhard Guido, sein Pflegevater.

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Tim strotzt nur so vor Lebensfreude

Die neun Stunden als hilfloses Frühchen haben ihre Spuren hinterlassen. Tim versteht weniger als andere Kinder mit dem Gendefekt Trisomie 21. Er spricht so gut wie nicht, wird über eine Magensonde ernährt. Laufen hat er mit großer Verspätung und viel Mühe erlernt. Doch die Energie und den Spaß am Leben merkt man dem nur 1,50 Meter großen jungen Mann an. Jauchzend und klatschend wartet er, nachdem sein Pflegevater ihn frühmorgens geduldig rasiert hat, vor der Haustür in Quakenbrück (Kreis Osnabrück) auf den Bus. Es ist der erste Unterrichtstag nach den Ferien in der Schule für „besondere“ Kinder. „Tim kann es kaum erwarten“, sagt Pflegemutter Simone Guido und lacht - die 51-Jährige strahlt selbst heitere Lebensfreude aus, auch ihr vier Jahre älterer Mann Bernhard, ein Lebensmitteltechniker, wirkt sehr zufrieden.

Die beiden hatten schon zwei gesunde fünf und drei Jahre alte leibliche Söhne, als sie Tim im Alter von sechs Monaten aufnahmen. Sie wussten, auf was sie sich einließen und werden nicht müde zu betonen, dass sie es nicht bereut haben. „Als wir damals im Krankenhaus vor ihm standen und er uns mit seinen blauen Augen angeguckt hat, war eigentlich alles klar“, erinnert sich Bernhard Guido. „Tim hat sich uns ausgesucht.“ Später entschied sich das Paar, noch zwei Mädchen mit Down-Syndrom in die Familie zu holen. Sie haben für ihr Engagement 2006 das Bundesverdienstkreuz bekommen.

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Die Pflegetöchter verdeutlichen jeden Tag, wie vielleicht auch Tim sich mit „nur“ dem Down-Syndrom hätte entwickeln können. Naomi konnte früh „Mama“ und „Papa“ sagen und ist ziemlich selbstständig, Melissa probt zurzeit für ein Schüler-Musical. Mit Schuldzuweisungen hält sich das Ehepaar Guido dennoch zurück. Die Oldenburger Ärzte hätten damals in einem Dilemma gesteckt, meint Simone Guido. Tims leibliche Mutter soll wegen des behinderten Kindes mit Selbstmord gedroht haben. Die 33-Jährige hatte schon ein gesundes Kind und anschließend eine Totgeburt gehabt. Nachdem bei Tim Trisomie 21 diagnostiziert worden war, hatte sie sich klar für Abtreibung entschieden. „Vermutlich wurde sie nicht umfassend beraten“, meint Simone Guido. Der leibliche Vater habe Tim, der ungeplant überlebte, den Namen gegeben. Später hat er ihn manchmal in der Pflegefamilie besucht. Allerdings nur, bis seine Frau sechs Jahre nach Tims Geburt nach diversen Krankheiten starb.

Leibliche Mutter hatte den Arzt verklagt

Zuvor hatte Tims leibliche Mutter das „Oldenburger Baby“ noch bundesweit bekannt gemacht - mit einer Klage gegen den Arzt, der die vereinbarte Abtreibung nicht wunschgemäß zu Ende gebracht hatte. Es sei häufiger vorgekommen, dass Frühgeburten in so einem Fall, in Tücher gewickelt, noch ein, zwei Stunden gelebt hätten, sagte einer der beteiligten Ärzte. Als Tim allerdings beim Schichtwechsel nach neun Stunden immer noch atmete, habe man sich für lebenserhaltende Maßnahmen entschieden. Sechs Monate lang wurde der winzige Junge dann mit Sauerstoff beatmet, viele Male musste er operiert werden, auch am Gehirn. Später folgten etliche Lungenentzündungen und andere lebensbedrohliche Krankheiten, und Tim entwickelte, vielleicht weil er sich so früh auf sich allein verlassen musste, autistische Züge.

Abtreibungsgegner zeigten die Oldenburger Ärzte an, weil sie Tim neun Stunden einfach liegen ließen. Rechtskräftig herausgekommen ist 2004 ein Strafbefehl von 90 Tagessätzen wegen gefährlicher Körperverletzung. Tims frühe Geschichte macht die Pflegeeltern zwar manchmal noch wütend. „Aber das Leben mit ihm ist ein Geschenk“, sagt Bernhard Guido. Er und seine Frau plädieren dafür, anstelle der Abtreibung Kinder mit Down-Syndrom lieber zur Adoption oder in Pflege zu geben. „Sie lassen sich sehr leicht vermitteln“, sagt Simone Guido - nicht zuletzt wegen ihrer ansteckenden Fröhlichkeit.

Der jetzt erwachsen gewordene Tim hat die Aufmerksamkeit der Besucher an seinem Geburtstag sichtlich genossen. Mit manchen Geschenken, wie den neuen Frisbeescheiben, hat er wenig anfangen können; er hängt an den alten, mit denen er Tag für Tag gerne herumscheppert. Ein Gutschein für den Heide-Park aber wird ihm Freude bereiten, meint Simone Guido. „Tim liebt Achterbahnfahren“, sagt die Pflegemutter. „In der Schlange geht er ganz cool an allen vorbei, und sie lassen ihn vor.“ Am liebsten sitze er in der ersten Reihe, jauchze und reiße die Arme hoch. „Wie ein Profi.“

Tims Pflegeeltern Simone und Bernhard Guido haben mit der Journalistin Kathrin Schadt ein lesenswertes Buch über ihre Erfahrungen veröffentlicht. Der Erlös geht auf ein Konto für die Pflegekinder, unter anderem für deren Delfintherapie. „Tim lebt!“ ist im adeo-Verlag erschienen und kostet 18,99 Euro.

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Spätabtreibungen nehmen zu

Als Spätabtreibungen gelten Schwangerschaftsabbrüche nach der 22. Woche. Ein Absaugen ist dann nicht mehr möglich, stattdessen wird eine Geburt eingeleitet. Zu dieser Zeit ist ein „Frühchen“ oft schon lebensfähig und stirbt unversorgt möglicherweise erst Stunden nach der Geburt. Deshalb setzen viele Ärzte ihm im Mutterleib eine Giftspritze. Straffrei ist eine Abtreibung bis unmittelbar vor dem Einsetzen natürlicher Eröffnungswehen, wenn die Mutter sonst laut ärztlichem Gutachten körperlich oder psychisch in ihrer Gesundheit bedroht ist – etwa wegen festgestellter Krankheiten des Fötus. Die „embryopathische Indikation“, die eine Behinderung als Abtreibungsgrund anführte, gibt es seit 1995 nicht mehr. Viele Kliniken haben nach dem „Oldenburger Baby“, das 1997 neun Stunden selbstständig im Kreißsaal weiterlebte, eine Ethikkommission eingesetzt, die sich mit jedem Einzelfall befasst.

In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Abtreibungen kontinuierlich gesunken, in Niedersachsen auf 7900 im Jahr 2014 – nicht zuletzt, weil es weniger Frauen im gebärfähigen Alter gibt. Spätabtreibungen dagegen haben laut statistischem Bundesamt deutlich zugenommen, 2014 waren es bundesweit fast 600. Jede zweite davon betreffe einen Fötus mit dem Gendefekt Trisomie 21 (Down-Syndrom). Schätzungen zufolge werden neun von zehn „Down-Babys“ abgetrieben. gs

HAZ

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