Die rätselhaften Krebsfälle von Rodewald
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Diese Pumpe war in Rodewald noch bis mitte der 90er Jahre in Betrieb.
© Quelle: Susanne Doepke
Rodewald. . Es ist ein Satz, vollgepackt mit Hoffnung. „Ich bin durch!“, sagt Hans-Joachim Zilke und schaut zu Boden. Durch? Er hebt den Blick, drückt den Rücken durch und verschränkt die Arme, als habe ihm eine innere Stimme geraten, mehr Zuversicht zu demonstrieren: „Ich bin geheilt!“
Hans-Joachim Zilke hat gerade den Krebs bezwungen. Zum zweiten Mal. 2010 erkrankte er das erste Mal an Lymphdrüsenkrebs. Im vergangenen Herbst dann ein Rückfall. „Rezidiv“ nennen das die Mediziner. Mit der lebensbedrohlichen Krankheit kehrte auch die Ungewissheit zurück und die Frage nach den Gründen. Warum gerade er? Zufall? Oder gibt es einen Verursacher?
Die Frage ist umso drängender, als sich seit einigen Jahren in Zilkes Nachbarschaft bestimmte Krebserkrankungen häufen. Zwischen 2005 und 2013 sind 20 Einwohner im 2500-Seelen-Ort Rodewald im Landkreis Nienburg an Leukämie oder Lymphomen, also Lymphknotenveränderungen oder Tumoren des Lymphgewebes, erkrankt. Nach den Berechnungen der Statistiker wären zwölf Fälle „normal“. Noch beunruhigender ist die Krebsrate unter den Kindern im Dorf - vier statt 0,6 Fälle. Das Mainzer Krebsregister, das bundesweit die Krebserkrankungen von Kindern erfasst, nennt das Ergebnis „signifikant“ über dem statistischen Wert, was, frei übersetzt, ein schriller Alarmruf ist.
„Ein Teufelszeug“
Was tun? Seit einem halben Jahr bemüht sich eine Arbeitsgruppe aus Vertretern der Gemeinde, des Kreisgesundheitsamtes, des Landesgesundheitsamtes und des Sozialministeriums Erklärungen zu finden und nach möglichen Gefahrenquellen zu fahnden. Unter Verdacht steht das krebserregende Benzol, das unter anderem bei der Erdölförderung anfällt - „ein Teufelszeug“, sagt Zilke. Bekannt ist, dass Benzol Lymphome hervorrufen kann. Der 61-Jährige, Elektromeister in einem Chemieunternehmen und von 2006 bis 2011 Bürgermeister in Rodewald, wüsste gern, woran er ist.
Die Sache mit dem Erdöl ist nicht zufällig in der Welt. Bis in die Neunzigerjahre lebte die Samtgemeinde Steimbke, zu der das Dorf Rodewald gehört, wie viele andere Regionen in Niedersachsen vom Öl. 3,4 Millionen Barrel pumpte der damalige Konzessionsnehmer BEB in vier Jahrzehnten allein rund um Rodewald aus der Erde. Der Erdölkonzern füllte im Gegenzug nicht nur die Steimbker Steuerkasse und schuf Arbeitsplätze. Er spendierte ein Freibad, ein Clubhaus und neue Wohnsiedlungen. Wenn Hans-Joachim Zilke vors Haus tritt und sechs Kilometer die Dorfstraße runterradelt, kommt er zum alten Betriebsplatz Suderbruch, auf dem das Öl aus drei Dutzend Bohrlöchern gesammelt, gereinigt und abtransportiert wurde. Über ein Ausblasrohr wurden im Öl enthaltene Gase in die Luft entlassen und mit einer sogenannten Kaltgasfackel abgebrannt.
Eins der Abfallprodukte ist das krebserregende Benzol. Ein TÜV-Gutachten über die Anlage kam 1989 zu dem Ergebnis, dass der Benzolgehalt in der Luft den zulässigen Wert um das 400-fache überstieg. Anlass der Messung war die Klage eines direkten Nachbarn, der sich über die starke Geruchsbelästigung beschwert hatte. Die Kaltgasfackel wurde daraufhin abgeschafft. Fünf Jahre später wurde die Ölförderung in Steimbke komplett eingestellt - aus wirtschaftlichen Gründen. Mit der Sanierung des Platzes nahm man es anscheinend nicht so genau. 2011 vermerkte ein Schadstoff-Gutachten deutlich erhöhte Benzolwerte im Boden und im Grundwasser. 2014 entschloss sich Exxon-Mobil, der BEB-Nachfolger, das stark verseuchte Grundstück, zwischen Restaurant und Eigenheimen gelegen, erneut zu sanieren.
Kein Grund zur Sorge?
Damit hatte das Unternehmen bereits Übung. 2011 war es 60 Kilometer weiter nördlich in der Gemeinde Bothel zu einem Unfall bei der dortigen Erdgasförderung gekommen. Aus undichten Rohrleitungen war Lagerstättenwasser, das unter anderem Benzol enthält, ausgelaufen. Der verunreinigte Boden musste entsorgt werden. Zwei Jahre später machten Gerüchte über vermehrte Krebserkrankungen in Bothel die Runde. 2014 bestätigte eine Auswertung des Epidemiologischen Krebsregisters Niedersachsen (EKN) die Vermutung. Die Zahl der erkrankten Männer mit Lymphomen ist doppelt so hoch wie der statistisch erwartbare Wert, besonders verbreitet ist das Non-Hodgkin-Lymphom. In der Stadt Rotenburg gibt es ebenfalls Auffälligkeiten. Und nun Steimbke.
Dort hat man lange gezögert, dem Gerede über eine Krebs-Serie nachzugehen. 2006 beschwichtigte das Kreisgesundheitsamt die Rodewalder Gemeindevertreter. Es gebe keinen Grund zur Sorge. Hans-Joachim Zilke war damals gerade frisch gewählter Bürgermeister. „Als man kürzlich die Unterlagen einsehen wollte, waren sie verschwunden“, sagt er.
Zilke ist auch heute noch unsicher, ob es richtig ist, die Krebserkrankungen an die große Glocke zu hängen. Er ist einer der wenigen Betroffenen, die sich öffentlich äußern. Schließlich kämpft der Ort seit Jahren wie viele ländliche Regionen gegen den Abstieg. Grundstückspreise fallen; junge Leute ziehen in die Stadt. Auch Samtgemeindebürgermeister Knut Hallmann fürchtet einen Imageschaden für den Ort. „Wir wollen und brauchen Zuzug.“ Aber Verschweigen ist keine Alternative.
Dieser Meinung ist vor allem Kathrin Otte. Die 55-jährige Personalberaterin ist Gründerin eines Netzwerks für Umweltkranke namens Genuk. Sie lebt in einer Welt, in der Pestizide, Blei und Amalgam eine alltägliche Bedrohung sind. Ihre eigene Krankheitsgeschichte hat sie dies gelehrt. Seit Kurzem hat sie den Kampf gegen die gesundheitlichen Gefahren der Erdöl- oder Erdgassuche zu „ihrem Projekt“ gemacht. Sie schreibt Briefe an die Landesregierung, sie organisiert Treffen vor Ort und sie sitzt neben Behördenvertretern und Politikern in der Arbeitsgruppe als Anwältin der Betroffenen. Sie ist vorsichtig mit Schuldzuweisungen. Bislang sei nicht bewiesen, ob Benzol der Auslöser sei. „Aber es muss endlich wissenschaftlich untersucht werden, ob es einen Zusammenhang gibt.“
Nachweis der Ursache von Erkrankungen ist praktisch nicht möglich
Anfang des Jahres bekam sie Unterstützung von rund 200 Ärzten aus der Region Rotenburg, die in einem offenen Brief an Sozialministerin Cornelia Rundt eine Untersuchung der Ursachen für die hohe Krebsrate fordern. „Wir werden nach Ursachen gefragt und haben bisher keine Antwort“, sagte die Rotenburger Hausärztin Christiane Qualmann.
Ist mit Antworten zu rechnen? Michael Hoopmann, Umweltepidemiologe beim Landesgesundheitsamt, hat Zweifel. Sieben regionale Studien hat das EKN seit seiner Gründung im Jahr 2000 über mögliche „Krebscluster“ veröffentlicht; siebenmal sind die Statistiker den Anfragen von Landkreisen nach möglichen Umweltgefahren nachgegangen. Mal ging es um eine Lackiererei, mal um eine Eisengießerei, um vermutete elektromagnetische Felder oder die Schachtanlage Asse, in der Atommüllfässer lagern.
„Ein sicherer Nachweis der Ursache von Krebserkrankungen ist praktisch nicht möglich“, sagt Hoopmann. In der Regel sei die Zeitspanne zwischen Auslöser und Ausbruch der Krankheit sehr lang, was die Suche erschwere. Zudem spielten häufig mehrere Risikofaktoren eine Rolle. Dennoch wird in Rodewald weiter nach möglichen „Belastungsquellen“ gesucht. An 17 Krebspatienten wurden bereits Fragebögen verschickt, um die einzelnen Lebensumstände zu dokumentieren und Gemeinsamkeiten zu entdecken. Wann die Ergebnisse vorliegen werden, ist offen.
Ein anderer Termin steht dagegen bereits fest. 2018 wollen Exxon-Mobil und Wintershall im Feld Suderbruch erneut Öl pumpen. Landauf, landab gelten die alten Quellen wieder als lukrativ. Erste Erkundungsbohrungen finden seit November statt. Bei Wintershall heißt es, niemand müsse sich Sorgen machen. Die neuartige Fördertechnik sei ungefährlicher als die alte. Außerdem gebe es unter den eigenen Mitarbeiter seit Jahrzehnten keine gesundheitlichen Auffälligkeiten - und die seien ja „am dichtesten dran“.
HAZ