„Einer wird diese Nacht nicht überleben“
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Die Brüder des im März zu Tode getretenen 25 Jahre alten Daniel Christian (l) und Tobias nehmen am Prozess als Nebenkläger teil.
© Quelle: dpa
Verden. Der 20-Jährige, der im März in Weyhe im Kreis Diepholz einen Streitschlichter getötet haben soll, muss sich seit Dienstag vor dem Landgericht Verden verantworten. Der mutmaßliche Täter soll den 25-jährigen Daniel S. wiederholt getreten haben, auch als dieser schon reglos auf dem Boden lag. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten jetzt „heimtückischen Mord aus niedrigen Beweggründen“ vor.
Der Fall sorgte bundesweit für Aufsehen. In einem Bus, der gegen 4 Uhr nachts von einer Diskothek zum Bahnhof im Weyher Ortsteil Kirchweyhe fuhr, hatte es einen Streit gegeben. Als Daniel S. schlichtend eingreifen wollte, soll der Täter ihn unvermittelt mit einem Tritt am Rücken getroffen haben. Der Angegriffene prallte dabei gegen die Außenseite des Busses und blieb besinnungslos liegen. Der mutmaßliche Täter soll dann weiter auf ihn eingetreten haben. Die Staatsanwältin attestierte dem Angreifer am Dienstag in der Anklageverlesung eine „menschenverachtende Vernichtungsbereitschaft“. Sie wirft dem 20-Jährigen vor, er habe in der Tatnacht davon gesprochen, dass an diesem Abend jemand sterben werde. Daniel S. fiel nach dem Angriff ins Koma und starb vier Tage später.
Seit dem Angriff hat sich in Kirchweyhe einiges verändert. Pastor Holger Tietz spricht viel mit den Menschen im Ort. Zuletzt habe das Thema die Bürger nicht mehr so stark beschäftigt, ein bisschen kehre auch Alltag ein, sagt er. Doch der Pastor rechnet damit, dass mit dem Prozessauftakt die Diskussion über die Untat wieder auflebt. Tietz zeigt sich immer noch erschüttert von dem Angriff. „Es gibt keine Rechtfertigungen, anderen Gewalt anzutun - schon gar nicht für solch eine abscheuliche Tat.“ Man habe auch schon vorher beim monatlichen „Runden Tisch“ mit den Vertretern des Ortes über Gewalt gesprochen. In den vergangenen Monaten war der Fall ein bestimmendes Thema. Immerhin, etwas Gutes könne man aus diesem Thema gewinnen. „Der Zusammenhalt hier ist nach diesem Wahnsinn gewachsen“, sagt Pastor Tietz.
Das zeigte sich auchs, als ein paar Rechte den Angriff für ihre Zwecke nutzen und eine ausländerfeindliche Stimmung schüren wollten - unter Hinweis auf die türkischen Wurzeln des Angeklagten. Doch ein breites Bündnis organisierte Mahnwachen am Bahnhof und Demonstrationen gegen Gewalt und rechtsextreme Gesinnung, an denen sich Tausende Menschen beteiligten.
Am Dienstag beim Prozessauftakt standen Vertreter der rechten Initiative „Wir sind Daniel“ mit einem Plakat vor dem Gerichtsgebäude in Verden. Auf ihrer Facebook-Seite findet sich allerhand Deutschtümelei. „Jeder Deutsche ist potentiell auch ein ,Daniel S.“‘, heißt es da. Als Kopf der Gruppe gilt der militante, vorbestrafte Neonazi Christian Worch, der in Parchim (Mecklenburg-Vorpommern) lebt.
Im Bürgermeisteramt kann man diese Logik nicht verstehen. Andreas Bovenschulte, der erste Gemeinderat, betont, dass jedes Verbrechen eine individuelle Tat sei. Er hofft, dass der Ablauf der Tat aufgeklärt wird und das Gericht auch das Motiv klären kann. Die rechte Propaganda nennt er den „schlimmsten Fall verirrten Denkens“. Ob denn Weyhe nach der Tat näher zusammengerückt ist, wird der Vertreter des Bürgermeisters in diesen Tagen oft gefragt. Er mag es nicht bejahen, auch wenn es im Kern stimme, auch wenn die Bürger Courage gezeigt hätten, auch wenn es ein Bündnis gab, über alle Parteigrenzen hinweg. Denn der Preis, der Tod des jungen Mannes, der sein Leben noch vor sich hatte, lasse sich doch nicht damit aufwiegen, sagt Bovenschulte. Die Tat wird den Ort weiter begleiten. „Es war ein erheblicher Einschnitt“, sagt Bovenschulte. Die Bürger hätten ein kollektives Trauma durchlitten. Die Gemeinde wird den Prozess beobachten. Am Dienstag war Bürgermeister Frank Lemmermann unter den Zuschauern.
Am 25. September wird der Prozess fortgesetzt. Es sind 20 Verhandlungstage angesetzt, der letzte am 19. Dezember. Noch ist nicht entschieden, ob über den 20-jährige Angeklagten nach Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht geurteilt wird. Darüber wird sich das Gericht im Laufe des Prozesses ein Bild machen.
Pastor Tietz überlegt, an einem der Verhandlungstage ins Landgericht zu gehen: „Ich würde den Täter schon gerne erleben.“ Der Pastor fragt sich, wie so viele im Ort: Warum macht ein Mensch so was? Warum diese Gewalt? „Ich weiß auch nicht, woher das kommt.“
Gerd Schild
HAZ