„Islamisten agieren vermehrt aus Hinterzimmern“
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Bernhard Witthaut, Präsident Verfassungsschutz Niedersachsen, bereitet sich auf die Rückkehr von islamistischen Kämpfern vor
© Quelle: dpa
Hannover. Auch nach der weitgehenden Zerschlagung des „Islamischen Staates“ bleiben die deutschen Sicherheitsbehörden alarmiert. Die Bundesrepublik stehe weiterhin im Fokus islamistischer Terroristen, sagt Bernhard Witthaut, der neue Präsident des niedersächsischen Verfassungsschutzes, im HAZ-Interview.
Herr Witthaut, hat sich mit der Zerschlagung des sogenannten Islamischen Staates auch bei uns die Sicherheitslage entspannt? Oder ist sie wegen der Rückkehrer aus den Kriegsgebieten des Nahen Ostens eher brenzliger geworden?
Den Begriff brenzlig würde ich in diesem Zusammenhang vermeiden. Die Bundesrepublik Deutschland steht natürlich weiterhin im Fokus islamistischer Terroristen. Damit liegt weiterhin eine ernst zu nehmende Bedrohungslage vor, mit einem jederzeit zu realisierenden Anschlagsrisiko, auch in Niedersachsen. Die Sicherheitsbehörden müssen deshalb bestmöglich vor der direkten Bedrohung durch den Extremismus schützen, gleichzeitig muss aber auch die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit gewahrt werden. Insbesondere mit dem Zerfall des Kalifats in weiten Teilen Syriens und dem Irak entfaltet der sogenannte Islamische Staat als Reiseziel zwar keine große Wirkung mehr, dafür stellen aktuell Personen, die aus den Krisengebieten zurückkehren, die Sicherheitsbehörden vor neue Herausforderungen.
Mit wie vielen Rückkehrern rechnen Sie in Niedersachsen?
Uns liegen aktuell Erkenntnisse zu 84 ausgereisten Islamisten vor. Mehr als ein Drittel dieser ausgereisten Personen befindet sich momentan wieder in Niedersachsen beziehungsweise Deutschland. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, wie viele Personen sich noch in den Krisengebieten aufhalten. Denn über die möglicherweise inhaftierten IS-Anhänger hinaus liegen auch keine abschließend gesicherten Informationen zu möglichen Aufenthaltsorten der Ausgereisten und zur Gesamtzahl der getöteten Islamisten vor.
Wie viele Frauen sind unter diesen IS-Kämpfern und Ausgereisten?
Bei etwa einem Fünftel der 84 ausgereisten Islamisten handelt es sich um hier bekannte Frauen. Ein Teil von ihnen befindet sich nach derzeitiger Erkenntnislage vermutlich weiterhin im Krisengebiet Syrien/Irak.
„Straftäter müssen bei uns vor Gericht gestellt werden“
Wird mit der Rückkehr der früheren IS-Kämpfer und ihrer Unterstützer die Sicherheitslage in Deutschland und in Niedersachsen bedrohlicher?
Ich gehe davon aus, dass die Lage eine andere sein wird und uns als Sicherheitsbehörden schon sehr herausfordert. Neben der Gefahr von größeren, zentral gesteuerten Anschlagsvorhaben sowie autark handelnden Einzeltätern im Inland stellen auch die in die Dschihadgebiete ausgereisten Personen und potenziellen Rückkehrer eine mögliche Bedrohung dar. Denn viele der Menschen, die in die Kriegsgebiete gereist sind, haben furchtbare Dinge erlebt, möglicherweise auch Furchtbares getan. Viele von ihnen sind traumatisiert. Darauf müssen wir uns einstellen, und wir bereiten uns darauf auch seit einiger Zeit vor.
Was wird mit diesen Menschen geschehen?
Niedersachsen ist eines der ersten Länder, das eine systematische und behördenübergreifende Bearbeitung entwickelt hat und gewährleistet, da es sich bei den Rückkehrern aus Syrien/Irak um eine heterogene Gruppe handelt, die unterschiedliche repressive und präventive Ansätze erforderlich macht. Straftäter werden als Straftäter behandelt und müssen bei uns vor Gericht gestellt werden, wenn sie als Kämpfer oder Unterstützer an diesen kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligt waren.
Wie bringt man einen früheren IS-Kämpfer dazu, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, wenn er durch jede Auskunft an deutsche Sicherheitsbehörden sich selbst belastet? Ist das nicht unmöglich?
Darin besteht eine große Schwierigkeit, das ist beinahe schon ein Kunststück. Aber wir müssen sehr genau überlegen, wie wir nach einem strafrechtlichen Verfahren und einer Verurteilung mit solchen Menschen umgehen: Können zum Beispiel Fußfesseln eingesetzt werden, um sie zu überwachen – wenn die rechtlichen Voraussetzungen vorliegen? Oder müssen andere Maßnahmen ergriffen werden? Dies wird dann in einer Einzelfallprüfung der Sicherheitsbehörden entschieden werden müssen. Darüber hinaus haben Polizei und Verfassungsschutz in der gemeinsamen Kompetenzstelle Islamismusprävention Niedersachsen (KIPNI) mit anderen relevanten Akteuren geeignete präventive Maßnahmen unter anderem auch für Rückkehrer aus Syrien und dem Irak entwickelt.
Noch mal zur Ausgangsfrage: Wird durch das allmähliche Verschwinden des „Islamischen Staates“ die Bedrohung geringer?
Nein, obwohl das durch den „Islamischen Staat“ kontrollierte Gebiet sowohl im Irak als auch in Syrien fast vollständig zurückerobert wurde und er als weitgehend zerschlagen gilt. Es ist zu erwarten, dass die Terrororganisation als Reaktion darauf ihr Augenmerk noch stärker auf die Medien- und Propagandaarbeit sowie die Durchführung von Anschlägen – speziell in Europa – legen wird, um die weitere Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Folglich ist eine Abnahme der Anschlagsgefahr trotz des Zerfalls des Kalifats nicht zu erwarten.
„Treffpunkte werden aus dem öffentlichen Bereich in die Hinterzimmer verlagert“
Es hat ja hier in Niedersachsen einige Hotspots gegeben, etwa den Moscheeverein in Hildesheim, der 2017 verboten worden ist. Hat sich dadurch die Lage beruhigt?
Die Salafismuszahlen in Niedersachsen stagnieren aktuell zwar bei 880 Personen. Dies ist jedoch kein Indiz dafür, dass die salafistische Szene nicht aktiv ist.
Gibt es dabei regionale Unterschiede?
Der Salafismus ist ein landesweites Phänomen mit regionalen Schwerpunkten, dabei sind insbesondere im Bereich des politischen Salafismus die Deutschsprachige Muslimische Gemeinschaft (DMG) Braunschweig sowie der Deutschsprachige Islamkreis Hannover (DIK Hannover) weiterhin aktiv. In Hildesheim hat die salafistisch dominierte Moschee des DIK Hildesheim und ihr Prediger Abu Walaa eine besondere Rolle für die Radikalisierung und Rekrutierung der salafistischen Szene in Niedersachsen gespielt. Insbesondere Abu Walaa hatte dabei als charismatische Führungsperson und überregional vernetzter Prediger eine wichtige Funktion.
Nun muss sich Abu Walaa derzeit vor Gericht verantworten ...
Grundsätzlich haben das Verbot und die Festnahmen von Abu Walaa und seiner engsten Vertrauten zumindest zu einer vorübergehenden Schwächung des Aktionspotenzials geführt, da der dschihadistisch-salafistischen Szene in Niedersachsen damit die charismatische Führungsperson und ein örtlicher Anlaufpunkt fehlt. Aber auch durch den erhöhten staatlichen Verfolgungsdruck der letzten Jahre insgesamt, zum Beispiel durch Festnahmen und Abschiebungen der Gefährder aus Göttingen nach Paragraf 58a des Aufenthaltsgesetzes, im Bereich des Salafismus zeichnen sich zahlreiche Veränderungen ab. Hierzu zählen eine Zersplitterung der Szene oder auch ein zunehmend feststellbares konspiratives Verhalten, wenn etwa die Treffpunkte aus dem öffentlichen Bereich von Moscheen in Hinterzimmer und Privaträume verlagert werden.
Zur Person
Bernhard Witthaut ist seit Anfang dieses Jahres neuer Präsident des niedersächsischen Verfassungsschutzes. Er löste Maren Brandenburger ab, die wegen der Enttarnung eines V-Mannes gehen musste. Witthaut wurde 1955 in Hagen am Teutoburger Wald geboren. Er war ein deutscher Polizeibeamter und von 2013 bis 2019 Polizeipräsident in Osnabrück. Zuvor war Witthaut, SPD-Mitglied und gewerkschaftlich sehr aktiv, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, davor auch Landesvorsitzender. Die Ernennung zum Chef des Verfassungsschutzes kam für den 62-Jährigen überraschend. Die neue Aufgabe „packt“ ihn nach eigenen Worten und „macht richtig viel Spaß“.
Wo befindet sich die Szene jetzt?
Auch nach dem Verbot der Moschee des DIK Hildesheim im März 2017 gibt es ein salafistisches Personenpotenzial vor Ort. Teilweise sind gewisse Wanderungsbewegungen von Personen aus dem ehemaligen DIK-Umkreis, die jetzt andere Objekte in Niedersachsen aufsuchen, festzustellen. Die Sicherheitsbehörden beobachten deshalb intensiv die weiteren Entwicklungen.
„Ein Angriff auf Krankenhäuser wäre eine gruselige Vorstellung“
Sind Sie personell überhaupt gut genug ausgestattet, dieser Szene zu begegnen?
Wenn Sie einen Präsidenten fragen, dann sagt er nie, er hätte genug Personal (lacht). Aber der Landtag und die Regierung haben beschlossen, dass wir im Herbst 50 neue Stellen bekommen. Das ist ein guter und wichtiger Schritt zu einer besseren Personalausstattung.
Gibt es auch neue Felder, die Sie beackern?
Immer wichtiger wird in Zeiten der Cyberattacken und -kriminalität der Schutz der Wirtschaft, Stichwort Spionage. Mancher glaubt, das sei nicht unsere Aufgabe. Das Gegenteil ist der Fall. Denn gerade wir als Verfassungsschutz können die Unternehmen und Betriebe beratend unterstützen, damit sie sich gegen Cyberangriffe schützen können. Genauso sind Angriffe auf sensible Infrastrukturen eine Bedrohung für unser Gemeinwesen. Ein Angriff auf Krankenhäuser oder auf Kraftwerke wäre schon eine gruselige Vorstellung. Aber abwegig ist sie nicht!
Von Michael B. Berger