Niedersachsen will Übergang von Kindergarten zu Schule erleichtern
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Gemeinsam in die „Gletscherspalte“: Zwei Jungen erklimmen beim Sportunterricht in der Grundschule Schandelah eine Sprossenleiter.
© Quelle: Insa Cathérine Hagemann
Schandelah/Bücken. Sie lesen, sie singen, und sie erklimmen zusammen ungeahnte Höhen – oder jedenfalls das, was man als Höhe empfindet, wenn man fünf oder sechs Jahre alt ist und selbst gerade bis zur dritten Strebe der Sprossenwand reicht.
„Gletscherspalte“ heißt die Station im Parcours in der Sporthalle der Grundschule Schandelah im Kreis Wolfenbüttel. Um von ganz oben zwischen zwei dicke Matten zu springen, braucht man Mut. Und Vertrauen.
Vertrauen haben die Kinder, die in der Turnhalle klettern, an Seilen schaukeln und über umgedrehte Bänke balancieren zweifellos. Sie vertrauen den Personen, die ihnen Hilfestellung geben, ohne Unterschied - ganz egal, ob es sich um Lehrerinnen aus der Schule oder Erzieherinnen aus dem Kindergarten handelt.
Laura ist sechs und geht schon in die Schule, Lev (5) besucht noch den Kindergarten. In die Schule kommt er erst im Sommer. Dennoch kennt der Junge schon den Pausenhof, die Turnhalle, die Klassenräume, die Eingangshalle und die Umkleiden. Dann schlägt Lehrerin Juliane Hartung auf die Trommel. Die Kinder sollen die nächste Station im Parcours ansteuern.
Was hier geschieht, ist für die Kinder ein Spiel - darüber hinaus ist es jedoch auch Teil eines großen Projekts: des Versuchs, den Übergang vom Kindergarten zur Grundschule so fließend zu gestalten, dass kein Kind überfordert wird. Viele Eltern sind wegen genau dieses Übergangs inzwischen so besorgt, dass sie ihr Kind lieber noch von der Schule zurückstellen lassen - genau diesen Trend wollen Pädagogen stoppen.
Einmal im Monat kommen deshalb Kinder aus vier umliegenden Kitas nach Schandelah zum Sportunterricht in die Sandbachschule. „Die Grenzen verschwimmen“, sagt Lehrerin Hartung, „nach dreimal weiß man nicht mehr, wer Schul- und wer Kitakind ist.“
Schandelah gehört zu den acht Modellstandorten in Niedersachsen, die an dem Programm „Kita und Grundschule unter einem Dach“ teilnehmen. Das Projekt läuft seit Sommer 2012. Über drei Jahre lang soll die Verzahnung von Kindergarten und Grundschule gefördert und wissenschaftlich untersucht werden. Rund 900.000 Euro lässt sich das Land dies kosten, jede einzelne Schule erhält etwa 30.000 Euro im Jahr.
Es ist die Fortsetzung eines anderen Projekts, das den Kindern schon bisher den Übergang in die Schule erleichtern sollte. Kitas und Schulen sollen enger zusammenarbeiten - das ist der Sinn des „Brückenjahres“, in dem Kinder in den zwölf Monaten vor der Einschulung individuell gefördert werden. Das „Brückenjahr“ hat fast überall in Deutschland die klassische Vorschule abgelöst. In Niedersachsen haben es seit 2007 knapp 600 Schulen und Kindergärten erprobt und an den meisten Orten auch beibehalten. Nun geht man noch einen Schritt weiter..
In Schandelah reden Erzieherinnen und Lehrerinnen auf Augenhöhe miteinander „Die Chemie stimmt“, sagt Günter Eichenlaub (CDU), Bürgermeister der Samtgemeinde Cremlingen. „Als Erzieherin denkt man ein bisschen, man steht eine Stufe unter der Schule“, sagt Silke Arnold, Leiterin der evangelisch-lutherischen Kindertagesstätte Schandelah. „Aber bei uns ist das zum Glück anders.“
Die Kinder nicht nur zusammen Sport, einmal in der Woche singen sie gemeinsam im Chor. Zweitklässler kommen regelmäßig zum Vorlesen in die Kitas. „Beide Seiten profitieren voneinander“, sagt Schulleiterin Karina Grabarse. Die Kitakinder werden selbstbewusster, die Erstklässler freuen sich über ihre Verantwortung für die Jüngeren.
Die Mutter Anja Schreier sagt, dass ihr sechsjähriger Sohn Bennet sich in der Schule jetzt schon zu Hause fühlt, obwohl er noch in den Kindergarten geht. Bei ihrem älteren Sohn hat sie dagegen ganz andere Erfahrungen gemacht. Er habe Monate gebraucht, um sich in der Schule heimisch zu fühlen.
Die Kitakinder sind in vielem schneller als ihre Altersgenossen. „Als ich einmal eine neue erste Klasse in Sport unterrichtete, war ich ganz überrascht, dass sie schon zu Stundenbeginn umgezogen waren“, berichtet Lehrerin Hartung. Sie kannte Erzählungen von Kollegen aus anderen Grundschulen. Erstklässler, die die die halbe Sportstunde in der Umkleidekabine vertrödeln, sind nicht die Ausnahme, sondern eher die Norm.
Aber Zeit ist das, was Kinder immer weniger haben. Englisch schon für Babys, Geige spielen und physikalische Experimente mit drei – der Trend geht zum früheren Lernen. „Die Ansprüche werden immer höher, den Druck der Eltern merken wir schon in den Kindergärten“, sagt Bürgermeister Eichenlaub.
In Deutschland ist die Trennung zwischen Kindergarten und Schule historisch gewachsen. In Ländern wie Frankreich oder England gibt es hingegen eine sehr enge Verzahnung zwischen Grundschulen und Kindergärten. Für den früheren niedersächsischen Ministerpräsidenten David McAllister (CDU), der schottische Wurzeln hat, war diese britische Kooperation das Vorbild für das neue Modellprojekt.
Auch die Kapitän-Koldewey-Grundschule in Bücken (Kreis Nienburg) arbeitet schon seit mehr als fünf Jahren mit den benachbarten Kitas eng zusammen. Es gibt eine Spiel- und Lernwerkstatt, Vorleseprojekte, gemeinsame Elternarbeit. „Wir dürfen nicht in unseren Zuständigkeiten verharren“, sagt Schulleiter Joachim von Lingen. Schließlich gehe es um die Kinder aus dem Dorf. Gerade erst hat er einen Elternabend abgehalten für die Kinder, die im Sommer 2013 Erstklässler werden. „Das hätte es früher in dieser Form nie gegeben“, sagt der Rektor.
Frühkindliches Lernen ist in Deutschland auch zusehends schulisches Lernen. Vorbei also die Zeit des unbeschwerten Spielens im Kindergarten? Es gibt Erziehungswissenschaftler wie den Tübinger Forscher Ludwig Liegle, die das für einen Riesenfehler halten. Seiner Ansicht nach ist die beste Vorbereitung für Kitakinder der Verzicht auf gezielte Vorbereitung. „Vorschulkinder lernen anders als Schulkinder“, sagt er. Aus dem eher zufälligen Lernen durch Spiel, Erkundung und Nachahmung werde ab dem 6. Lebensalter bewusstes Lernen durch Kontrolle, Üben, Unterweisung. Dennoch könnten Kinder in der Kita auch so viel fürs Leben und für die Schule lernen - Neugier, Ausdauer, Vertrauen
Mit sechs Jahren kommen die Kinder n der Regel in die Schule. Was wäre, wenn Kinder nicht zum einem festgelegten Stichtag eingeschult würden, sondern ganz individuell, wenn sie reif wären? „Das wäre toll“, sagt Kitaleiterin Ines Bobbe, „und kindgerecht.“
HAZ