Missbrauchsskandal in Lügde

Politik rügt Versäumnisse in Lügde

Niedersachsens Landtag hat am Donnerstag über den Fall Lügde debattiert.

Niedersachsens Landtag hat am Donnerstag über den Fall Lügde debattiert.

Hannover. Auch am Donnerstag ging die Spurensuche auf dem Campingplatz im nordrhein-westfälischen Lügde direkt an der niedersächsischen Landesgrenze weiter. Ermittler in Schutzanzügen durchsuchten die Parzelle von Andreas V., auf der mindestens 31 Kinder missbraucht worden sein sollen – darunter seine Pflegetochter. "Wir lassen hier wirklich keinen Stein auf dem anderen", sagte eine Polizeisprecherin, während die Spurensicherung Beweisstücke in Pappkartons sammelte. Auch Spürhund Artus, der am Mittwoch einen USB-Stick gefunden hatte, half bei der Suche nach Datenträgern und Handys.

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Eine Beamtin einer Spezialeinheit trägt einen sichergestellten Monitor von der abgesperrten Parzelle des mutmaßlichen Täters auf dem Campingpl

Eine Beamtin einer Spezialeinheit trägt einen sichergestellten Monitor von der abgesperrten Parzelle des mutmaßlichen Täters auf dem Campingplatz Eichwald in Lügde.

Insgesamt wurden laut Polizei bislang mehr als 13 000 Fotos und Videos mit kinderpornografischem Material gefunden. Neben dem mutmaßlichen Haupttäter sitzen zwei weitere Verdächtige in Untersuchungshaft. Ein 16-Jähriger, der belastendes Material besessen haben soll, das auf dem Campingplatz entstand, ist noch auf freiem Fuß.

Aktuelle Stunde im Landtag

Lügde steht mittlerweile nicht nur für mehr als 1000 Fälle von Kindesmissbrauch, es steht auch für Behördenversagen. Im Landtag in Hannover kritisierte CDU-Fraktionschef Dirk Toepffer in einer Aktuellen Stunde zu den Missbrauchsfällen deshalb das Jugendamt in Hameln, wo offensichtlich Schutzmechanismen versagt hätten. "Es ist eben nicht normal, dass ein niedersächsisches Jugendamt ein sechsjähriges Mädchen auf einem Campingplatz unterbringt, bei einem alleinstehenden Familienvater", kritisierte Toepffer.

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Nach Angaben aus Nordrhein-Westfalen wird wegen Strafvereitelung und Verletzung der Fürsorgepflicht gegen 14 Beschuldigte bei den Behörden ermittelt. Darunter seien auch zwei Mitarbeiter des Jugendamtes Hameln, sagte Justizministerin Barbara Havliza (CDU) in der Landtagssitzung auf entsprechende Fragen der Grünen. Die Staatsanwaltschaft Hannover, zuständig für Hameln-Pyrmont, habe aber keine eigenen Ermittlungen aufgenommen. Weiter wollte sich Havliza nicht zu der Sache äußern. Sozialministerin Carola Reimann (SPD) sagte, man befinde sich im Kontakt mit dem Jugendamt, um die Strukturen zu überprüfen, warte aber jetzt erst einmal die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen ab.

Kritik am Jugendamt in Hameln – und am Krisenmanagement

Der Landrat des Kreises Hameln-Pyrmont, Tjark Bartel (SPD), hatte sich zunächst vor das ihm unterstehende Jugendamt gestellt, bei dem inzwischen ein Mitarbeiter vom Dienst suspendiert worden ist, weil er nachträglich Akteneinträge einfügte. Toepffer fragte, ob "alle Teile der Politik die Ernsthaftigkeit des Themas begriffen haben", und kritisierte relativierende Bemerkungen von Bartels, ohne den Landrat beim Namen zu nennen.

Kritik am Verhalten der Hamelner Behörde kam auch von den Grünen und der AfD. Grünen-Fraktionsvorsitzende Anja Piel sagte, die Gewalt in Lügde "hätte in diesem Ausmaß verhindert werden" können. "Es zeichnen sich schwere Versäumnisse bei den Behörden ab, in Nordrhein-Westfalen ebenso wie in Niedersachsen", sagte die Grünen-Politikerin. Das Versagen der Behörden müsse Konsequenzen haben, sagte der AfD-Abgeordnete Stefan Bothe. Er forderte wesentlich strengere Strafen für Missbrauchstäter. Dies lehnte Wiebke Osigus von der SPD ab. "Der Ruf nach schärferen Strafen greift zu kurz. Wir brauchen Anwendung der geltenden Gesetze." Auch müsste die Gesellschaft insgesamt "mehr hinsehen".

Pannenserie in Lippe: Behördenchef tauscht Polizeispitze aus

Der für die Polizei in Lippe zuständige Landrat Axel Lehmann (SPD) kündigte am Donnerstag ein Programm zur Aufarbeitung des Skandals an. So soll die Polizei künftig für das Thema Missbrauch besser sensibilisiert werden. Außerdem soll der Austausch mit Jugend- und Gesundheitsämtern verbessert werden. Dabei soll auch neues Führungspersonal helfen, das der Behördenchef am Donnerstag in Detmold vorstellte.

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Chronik des Missbrauchsskandals

November 2018: Der 56-jährige Andreas V. wird festgenommen. Er soll mehrere Kinder auf einem Campingplatz in Lügde in Nordrhein-Westfalen sexuell missbraucht und dies gefilmt haben.

Januar 2019: Zwei weitere Tatverdächtige werden festgenommen: Ein 33-Jähriger aus Steinheim bei Höxter soll die Kinder abwechselnd mit dem Hauptbeschuldigten gefilmt und missbraucht haben. Ein 48-Jähriger aus Stade in Niedersachsen soll das Material bestellt und per Videoübertragung auch Missbrauch beobachtet haben.

29. Januar 2019: Die Polizei Lippe und die Staatsanwaltschaft geben den tausendfachen Missbrauch von 23 Opfern zwischen vier und 13 Jahren bekannt. Das Innenministerium Nordrhein-Westfalen überträgt die Ermittlungen an das Polizeipräsidium Bielefeld – aus „Kapazitätsgründen“. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Jugendämter: Unter den Opfern war mindestens ein vom Jugendamt Hameln-Pyrmont in Obhut gegebenes Pflegekind. Zudem besteht der Verdacht, dass Hinweise auf sexuellen Missbrauch dort missachtet wurden.

31. Januar 2019: Die Staatsanwaltschaft Detmold ermittelt nun auch gegen die Polizei in Lippe. Bereits 2016 soll es Hinweise von zwei Zeugen gegeben haben, dass Andreas V. sein Pflegekind sexuell missbraucht hat. Die Polizei habe den Hinweis an das Jugendamt Lippe weitergeleitet – aber nicht selbst ermittelt. Zudem berichtet ein Vater aus Bad Pyrmont, er habe 2016 Anzeige erstattet, weil V. seine beiden Töchter unsittlich berührt habe. Auch zum Jugendamt und zum Kinderschutzbund sei er gegangen – ohne Folgen.

1. Februar 2019: Die Opferzahl steigt von 23 auf 29.

5. Februar 2019: Der Landkreis Hameln-Pyrmont kündigt umfassende Aufklärung zu den Jugendamtsentscheidungen über das Pflegekind an. Eines der missbrauchten Mädchen lebte jahrelang bei dem Hauptverdächtigen auf dem Campingplatz. Es sei derzeit aber noch völlig unklar, ob seine Behörde einen Fehler gemacht habe, sagte Landrat Tjark Bartels (SPD). Die Unterbringung sei auf Wunsch der Mutter erfolgt und sieben Monate lang geprüft worden. Die Ermittler gehen davon aus, dass der 56-Jährige das Mädchen als Lockvogel missbraucht haben könnte, um an andere Kinder heranzukommen.

11. Februar 2019: Laut Staatsanwaltschaft sollen 31 Kinder auf dem Campingplatz missbraucht worden sein.

14. Februar 2019: Die Staatsanwaltschaft weitet die Ermittlungen auf drei weitere Verdächtige aus. In einem Fall geht es um den Verdacht der Strafvereitelung durch manipulierte Daten. Die anderen beiden werden der Beihilfe verdächtigt.

15. Februar 2019: Der Landkreis Hameln stellt den Leiter des Jugendamtes frei, weil er nachträglich Änderungen an der Akte der Pflegetochter des Hauptverdächtigen vorgenommen hatte. Es seien hauptsächlich Zusammenfassungen hinzugefügt und die Einträge zurückdatiert worden.

21. Februar 2019: Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) räumt ein, dass 155 Datenträger mit Beweismaterial, die in V.s Unterkunft sichergestellt wurden, seit Wochen verschwunden sind. Dass auf den CDs und DVDs kinderpornografisches Material enthalten ist, sei nicht auszuschließen. Die Staatsanwaltschaft schließt nicht aus, dass der Aluminiumkoffer mit den Asservaten entwendet wurde. Ein Sonderermittler wird eingesetzt.

22. Februar 2019: Das Innenministerium bestätigt Berichte, wonach die Sichtung des Beweismaterials einem Polizeianwärter, einem Studenten, übertragen wurde. Er gab an, 155 Datenträger in nur fünf Stunden ausgewertet zu haben. Ein leitender Kriminalbeamter der Kreispolizeibehörde Lippe wird suspendiert. Er hatte Behördenchef Axel Lehmann zu spät über die verschwundenen Beweismittel informiert.

26. Februar 2019: Innenminister Reul gibt bekannt, dass die Zahl der Beschuldigten auf sieben gestiegen ist. Ein 16-Jähriger aus der Region soll kinderpornografisches Material vom Campingplatz besessen haben. Zudem sei der Hauptverdächtige schon vor 17 Jahren verdächtigt worden, eine Achtjährige missbraucht zu haben, ohne dass damals ein Verfahren eingeleitet worden sei. Ein weiterer Missbrauchsverdacht wird öffentlich: Demnach soll ein 40-jähriger Dauercamper aus dem benachbarten Steinheim bei Detmold im Frühjahr 2018 eine 15-Jährige auf dem Gelände in Lügde vergewaltigt haben. Sonderermittler Ingo Wünsch skizziert eine beispiellose Kette des Versagens in der Kreispolizeibehörde Lippe: „Verantwortliche Führung ist nicht erkennbar.“ Ein zweiter Polizeidirektor aus Lippe wird auf Anweisung des Innenministeriums zwangsversetzt.

27. Februar 2019: Fahnder suchen auf dem Campingplatz erneut nach Hinweisen. Ein Spürhund findet einen USB-Stick.

Von Michael B. Berger und Sophia Weimer

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