Bessere Bedingungen

Viele Pfleger fliehen in die Zeitarbeit

„Niemand nahm auf meine schwierige Situation Rücksicht“: Die Zahl der Leiharbeiter in Gesundheitsberufen hat sich in den vergangenen zehn Jahren vervierfacht.Fotos: dpa, privat

„Niemand nahm auf meine schwierige Situation Rücksicht“: Die Zahl der Leiharbeiter in Gesundheitsberufen hat sich in den vergangenen zehn Jahren vervierfacht.Fotos: dpa, privat

Hannover/Hamburg. Wer Pflegerinnen fragt, wie zufrieden sie mit ihrer Arbeit in der Klinik sind, muss auf Stoßseufzer gefasst sein. Bei Gülten Hartmann ist das anders. Die gelernte Krankenschwester für Intensivpflege und Anästhesie schwärmt, wenn sie über ihren Job spricht. Sie verdient gutes Geld, bestimmt ihr Arbeitspensum selbst, hat keinen Ärger mit dem Chef, fährt einen Dienstwagen und kommt rum in Deutschland. Die 44-Jährige ist nicht fest angestellt in einem Krankenhaus, sondern Zeitarbeiterin.

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Reisende OP-Teams

Verkehrte Welt? Gilt die Arbeitnehmerüberlassung nicht als eine Branche, in der schlecht bezahlt wird und arbeitsrechtliche Standards eher unter- und nicht überboten werden? Vielleicht auf dem Bau und in der Industrie. Im Gesundheitswesen ist das anders. Wenn Krankenpflegerinnen, medizinische Fachkräfte oder Ärzte bereit sind, heute in Hannover und morgen in Düsseldorf für ein paar Monate zu arbeiten, wird von vielen Zeitarbeitsunternehmen der rote Teppich ausgerollt. Mittlerweile gehen bereits komplette OP-Teams auf Reisen. Nur etwa 8 Prozent von einer Million Zeitarbeitnehmer sind in Gesundheitsdienstberufen tätig. Aber in den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl vervierfacht.

Dienstpläne ohne Mitspracherecht

Gülten Hartmann kennt beide Welten. Dreieinhalb Jahre war die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern fest angestellte Pflegekraft in einer Hamburger Klinik. „Niemand nahm auf meine schwierige Situation Rücksicht“, erzählt sie. Die Dienstpläne wurden ohne ihre Mitsprache geschrieben, und wenn die Klinik abends anrief, weil wieder einmal eine Kollegin erkrankt war und jemand auf die Schnelle für die Schicht am nächsten Morgen gesucht wurde, konnte sie schlecht ablehnen. Ihre Kinder sah sie immer seltener.

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In einem hannoverschen Großklinikum arbeitet Andrea Schmidt (Name geändert). Sie ist Krankenschwester mit einiger Erfahrung, und sie erlebt, wie immer mehr Patienten durch die Stationen geschleust werden - bei immer weniger Personal. Sie erzählt: Pausen fallen aus. Manchmal reiche es nicht einmal, um auf die Toilette zu gehen. Das System lasse zu, dass Kollegen sich nach dem Ende der regulären Arbeitszeit ausstempeln, um dann in ihrer Freizeit weiter zu arbeiten. Andrea Schmidt beschreibt ein Klima permanenter Überforderung. Und was passiert, wenn man dies kritisiert? „Dann erhöht sich nur der Druck von oben auf die Stationsleitungen. Aber die sind ja selbst überfordert.“

Auf Pfleger aus Leiharbeitsfirmen schaut die gelernte Krankenschwester Schmidt ein wenig neidisch. Deren Arbeitszeit ist planbar, und sie stehen nicht unter dem sozialen Druck, weil sie beim nächsten Einsatz auf anderen Stationen arbeiten. Ans Kündigen denkt sie dennoch nicht.

Krankheitsbedingte Ausfälle führen zu akutem Notstand

Gülten Hartmann hat es schon vor Jahren getan. 2009 landete sie schließlich beim Unternehmen Avanti, das sich mit bundesweit elf Niederlassungen auf die Vermittlung medizinischer Fachkräfte spezialisiert hat. Dort ist Gülten Hartmann noch heute. Sie ist sozialversichert, verdient netto etwa 500 Euro mehr als ihre fest angestellte Kollegin und hat im Arbeitsvertrag festgelegt, wie viele Stunden sie monatlich arbeiten will und welche Schichten sie bevorzugt. Jedes Jahr hat sie eine Gehaltserhöhung auf dem Konto.

Nach vielen Jahren des Personalabbaus ist die Pflege vielerorts so knapp besetzt, dass krankheitsbedingte Ausfälle schnell zu einem akuten Notstand führen. Manchmal ist die Personaldecke sogar so dünn, dass nur noch mit Leasingkräften die Urlaubsansprüche der Stammbelegschaft erfüllt oder Überstunden abgebaut werden können. Hinzu kommt ein mittlerweile dramatischer Fachkräftemangel. Drei von vier Pflegebetrieben und 60 Prozent der Krankenhäuser haben laut Umfragen Probleme, qualifiziertes Personal zu finden. Etwa 10 000 Stellen in Pflegeheimen und 3000 Stellen in Krankenhäusern sind nach vorsichtigen Schätzungen unbesetzt.

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„Zeitarbeit ist in allen Krankenhäusern aufgrund des Fachkräftemangels ein Thema“, sagt Michael Born, Geschäftsführer des Klinikums Region Hannover. Auch das Klinikum sei gezwungen, auf Zeitarbeitskräfte, in der Pflege und punktuell im ärztlichen Dienst, zurückzugreifen, mit steigender Tendenz. Born, zuständig für den Personalbereich, hält dies durchaus für problematisch. „Es besteht die Gefahr, dass Zeitarbeitsfirmen als ,Rosinenpicker‘ Arbeitskräfte mit besseren Arbeitsbedingungen locken.“ Für das Betriebsklima sei dies nicht gut. „Wir müssen die Arbeit so organisieren, dass die Bedürfnisse unserer Beschäftigten berücksichtigt werden und sie gern bei uns sind.“

Die Branche profitiert

Zeitarbeitsfirmen, die sich auf den Gesundheitssektor spezialisiert haben, vermerken Umsatzzuwächse von bis zu 40 Prozent. Zu den führenden Personalüberlassungsagenturen gehört die Firma Jobtour medical in Baden-Baden. Sie wurde 2009 gegründet und hat mittlerweile etwa 250 Altenpflegeheime und Kliniken als feste Kunden. Sie vermittelt nicht nur Pflegekräfte, sondern seit Kurzem auch komplette OP-Teams.
Größtes Pfund ist Flexibilität: So wird auch schon mal eine Nachtwache binnen sechs Stunden nach Konstanz oder Berlin vermittelt. Den 120 Mitarbeitern bietet Jobtour kostenlose Weiterbildung, betriebliche Altersvorsorge, Coaching und eine private Krankenzusatzversicherung. Die Krankenquote liegt bei rund 1 Prozent; in Kliniken im Schnitt bei 5,5, in Altenheimen bei 6,7 Prozent. Vom Bundesarbeitsministerium wurde das Familienunternehmen mit dem Deutschen Arbeitsschutzpreis 2015 ausgezeichnet.     

Ein Ziel, das Personalräte wie Jutta Ulrich sofort unterschreiben würden. Seit 2015 steigt die Zahl der Leasingkräfte an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Im ersten Quartal 2017 waren 47 Pfleger leihweise im Haus, auf den normalen Stationen, aber auch auf der Intensivstation. Maximal für sechs Monate. „Die Stationen sind dankbar für jeden Ersatz.“ Mit dem Präsidium der MHH sei man sich einig, dass dies keine Dauerlösung sein dürfe, sagt Jutta Ulrich. Aber was tun, wenn sich auf Stellenausschreibungen kein geeigneter Bewerber meldet? Ebenso wie Klinik-Geschäftsführer Born sieht man auch an der MHH die Gefahren der Ausweitung von Leiharbeit. Auf einer Krankenhausstation sei es wichtig, die betrieblichen Abläufe, die Alltagsroutine, die wichtigsten Telefonnummern zu kennen, sagt MHH-Personalratsmitglied Christiane Grams.

"Keine mentale Bindung an einen Arbeitgeber"

Gülten Hartmann sagt, sie brauche kein Team. Sie genieße es, immer wieder neue Kollegen kennenzulernen und nicht den sozialen Druck zu verspüren, einzuspringen, wenn Not am Mann ist. „Ich habe keine mentale Bindung an einen Arbeitgeber - das schafft Freiheit und schützt vor einem Burn­out.“ Denn eins spüre sie bei ihren Stippvisiten: „Es brennt überall in den Kliniken; der Mangel ist dramatisch.“ Sie habe auch schon mal eine Station kennengelernt, auf der nur eine von acht Krankenpflegerinnen fest angestellt war.

Die Situation ist brenzlig. Viele Betriebsräte fürchten mittlerweile, dass immer mehr Pflegekräfte in die Leiharbeit abwandern. Nicht aus der Not der Arbeitslosigkeit heraus, sondern aufgrund der Verlockung. Mit Zeitarbeit könne man sich eine goldene Nase verdienen, sagt Gülten Hartmann. Die Nachfrage sei so groß, dass sogar der Leiharbeit-Markt leer gefegt sei. „Es sind zwei Welten. Solange das Pflegepersonal nicht besser behandelt wird, wird es so bleiben.“

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Von Gabriele Stief und Gunnar Menkens

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