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Protokoll einer Gewaltnacht

Was ist wirklich bei dem Aufmarsch in Hitzacker passiert?

Zugriff am Bahnübergang? Die Polizei stellt die linksradikalen Angreifer in der Nacht zu Sonnabend in Hitzacker.

Zugriff am Bahnübergang? Die Polizei stellt die linksradikalen Angreifer in der Nacht zu Sonnabend in Hitzacker.

Hitzacker/Hannover. Was ist tatsächlich am vergangenen Freitagabend beim Angriff von Autonomen auf das Haus eines Polizisten in Hitzacker (Kreis Lüchow-Dannenberg) passiert? Die Darstellungen sind unterschiedlich. Der Versuch eines Protokolls.

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18. Mai, gegen 20 Uhr

Vor dem Privathaus des Polizisten in Hitzacker haben sich Dutzende Demonstranten versammelt. Die Polizei spricht später von 60 Vermummten. Die „Belagerer“ selbst schreiben zwei Tage später auf der Internetseite des Wendländer Szenetreffs Gasthof Meuchefitz, es habe sich um 80 Sänger gehandelt, die sich auf dem Autowendeplatz vor dem Haus des Staatsschutzbeamten eingefunden hätten, um ein „spontanes Straßenmusikkonzert“ zu geben.

Der Polizist ist zu diesem Zeitpunkt im etwa 20 Kilometer entfernten Gorleben im Einsatz. Im Haus sind seine Frau und die beiden Kinder. An der traditionellen Demonstration am Freitag vor Pfingsten an den atomaren Anlagen in Gorleben nehmen in diesem Jahr rund 2000 Menschen teil. Darunter laut Polizei etliche Vermummte.

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20.15 Uhr

Der erste Streifenwagen taucht vor dem Haus des Polizisten auf. Wie es später heißt, ist der Beamte bereits alarmiert und auf dem Heimweg. In den 15 Minuten davor haben die Autonomen nach eigenen Angaben auf der Wiese vor dem Grundstück eine Fahne der kurdischen Miliz YPG in Syrien gehisst und am Carport weitere Flaggen der kurdischen Freiheitsbewegung angebracht.

Ist es die Rache für eine umstrittene Polizeiaktion im Februar? Damals hatten rund 80 Beamte, teils vermummt, ein YPG-Plakat am Gasthof Meuchefitz abgehängt und den Versammlungsort der autonomen Szene durchsucht. Auch der jetzt angegriffene Polizist soll dabei gewesen sein.

Die Polizei spricht von „lautstarker Stimmungsmache“ vor dem Haus des Polizisten. Die Teilnehmer hätten versucht, die Familie einzuschüchtern. Die Autonomen hätten Hassgesänge wie „Wir haben einen Spaten für den Garten“ angestimmt und den Mann und seine Familie damit konkret bedroht. „Die Personen waren sehr aggressiv.“ Einige seien auf das Grundstück vorgedrungen. Auch Zeugen des Geschehens sprechen später von einer bedrohlichen Szenerie. Eine friedliche Protestaktion sei es nicht gewesen.

20.25 Uhr

Die Autonomen haben den Ort nach eigenen Angaben verlassen. Die Polizei hat inzwischen einen Großeinsatz ausgelöst. Eine Einheit der Oldenburger Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit wird in Gorleben abgezogen und rast nach Hitzacker. Nach Angaben des Lüneburger Polizeisprechers Kai Richter sind mehrere Dutzend Beamte in Hitzacker im Einsatz.

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Gegen 20.45 Uhr

Die Oldenburger Polizisten treffen ein, die Auseinandersetzungen mit den Autonomen beginnen – angeblich noch vor dem Haus des Polizisten, auf jeden Fall in der Innenstadt. Dabei geht es offenbar teilweise brutal zu. Die Polizei spricht von „Handgreiflichkeiten und Widerstandshandlungen“. Einige der mutmaßlichen Täter hätten auch versucht, zu fliehen.

Die Polizei erteilte Platzverweise. Von vier leicht verletzten Personen ist später die Rede. Am Sarensecker Weg in der Nähe des Bahnhofs werden die Autonomen nach eigenen Angaben eingekesselt. „Die Beamten schlugen ohne Vorwarnung auf die Menschen ein und zwangen sie zu Boden“, heißt es auf der Internetseite. Dadurch seien etwa zehn Personen verletzt worden. Auch der Polizist, dessen Familie bedroht worden war, soll dabei gewesen sein – und auf am Boden liegende Personen eingetreten haben.

Polizeisprecher Kai Richter, der jetzt vor Ort ist, berichtet von Anfeindungen der Autonomen gegen Sanitäter und weiteren Hassgesängen. Essen und Getränke werden gebracht, während die Polizei die Personalien feststellt. Auch zwei Anwälte sind laut Richter schnell vor Ort. Die linke Szene im Wendland ist gut vernetzt.

23.30 Uhr

Die meisten Autonomen werden wieder auf freien Fuß gesetzt. Drei Personen bleiben in Gewahrsam, unter anderem weil sie weitere Straftaten angekündigt haben sollen. Zwei werden am nächsten Tag dem Haftrichter vorgeführt, alle drei schließlich wieder entlassen. Die Ermittlungen unter anderem wegen Hausfriedensbruchs, Sachbeschädigung und Bedrohung laufen. Die Autonomen haben Klagen gegen die Polizei angekündigt. Erst um 3 Uhr am Sonnabendmorgen ist der Polizeieinsatz in Hitzacker beendet.

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Der Widerstand im Wendland

Die links-autonome Szene kam mit dem Widerstand gegen die atomaren Anlagen von Gorleben ins Wendland. Vor 41 Jahren wurde der Salzstock unter dem Örtchen in dem dünn besiedelten Landstrich dicht an der ehemaligen DDR-Grenze zum Atommüllendlager erklärt. Schon wenige Wochen später demonstrierten 20 000 Menschen gegen die Erkundungsbohrungen: Landwirte, Lehrer, Anwälte, vor allem Menschen aus der Region.

Mit den Jahren wurde der Protest vielfältiger, aber auch teilweise militanter. Vor allem bei den Castor-Transporten von abgebrannten Kernelementen ins Zwischenlager Gorleben kam es regelmäßig zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten. Sitzblockaden, Barrikaden und Ankett-Aktionen waren an der Tagesordnung. Alleine 1997 wurden 30 000 Polizisten zur Sicherung eingesetzt. Die Castoren fahren nicht mehr, aber die Zukunft von Gorleben als möglicher Standort für ein Atommüllendlager ist weiter offen. Die Proteste sind deutlich weniger geworden, aber Polizei und autonome Atomkraftgegner belauern sich im Wendland offenbar immer noch.

Von Marco Seng

HAZ

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