Kinderpsychiater im Interview

„Lebensmüde Gedanken sollte man immer ernst nehmen“

Sind Kinder oder Jugendliche oft traurig und antriebslos, kann dahinter eine Depression stecken.

Sind Kinder und Jugendliche oft traurig und antriebslos, kann dahinter eine Depression stecken.

Herr Schulte-Körne, mit welchen psychischen Erkrankungen haben Sie es nach knapp zweieinhalb Jahren Pandemie am häufigsten zu tun?

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Mit Depressionen und auch massiven Angststörungen. Manchmal äußern sich die in einer Trennungsangst. Sprich, die betroffenen Kinder und Jugendlichen können sich nicht von zu Hause trennen, weil sie eng gebunden sind, weil die Eltern vielleicht auch ängstlich sind und Sorge um ihr Kind haben. Dadurch, dass sich die Kinder nur noch zu Hause aufhalten, nicht mehr zur Schule gehen, kaum noch soziale Kontakte haben, werden die Ängste allerdings verstärkt. Der Schulbesuch, das Zusammensein mit Gleichaltrigen ist aber notwendig, um sich weiterzuentwickeln.

Woran merkt man, dass ein Jugendlicher in eine depressive Episode rutscht?

Es fängt meistens damit an, dass Jugendliche an Dingen, die ihnen früher Spaß gemacht haben, weniger Spaß haben. Dass sie weniger Antrieb haben, sich zu Hause zurückziehen, dass sie schlechter schlafen oder abends später einschlafen. Hinzu kommen Gedanken, dass sie nichts wert sind, dass sie daran schuld sind, wenn es jemandem schlecht geht. Diese Jugendlichen beziehen alles auf sich. Sie haben ein negatives Lebensgefühl. Es beginnt langsam und irgendwann wundern sich die Eltern, warum die Freunde nicht mehr kommen, dass das Kind nachts vorm Computer oder Smartphone sitzt. Die Jugendlichen verstehen oft selbst nicht, was mit ihnen los ist.

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Prof. Gerd Schulte-Körne ist Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der LMU München.

Prof. Gerd Schulte-Körne ist Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der LMU München.

Eltern tendieren in dieser Lebensphase vielleicht ohnehin erst einmal dazu, das Verhalten auf die Pubertät zu schieben. Möglicherweise lässt sich das gar nicht so scharf voneinander abtrennen.

Und deshalb ist es so wichtig, ganz genau hinzuschauen, wenn sich im Verhalten und der Stimmung des Kindes etwas ändert.

Wann sollte man spätestens als Eltern aufhorchen? Gibt es klassische Alarmsignale?

Das ultimative Alarmsignal ist, wenn Kinder sagen: „Mir geht’s nicht so gut und ich habe keine Lust mehr zu leben.“ Das sollte man immer ernst nehmen. Häufig sieht man es den Jugendlichen auch an. Ihr Gesichts­ausdruck ist trauriger. Oft sprechen sie nicht darüber, was sie bedrückt. Es ist dann wichtig, als Eltern die Beziehung zu intensivieren und Brücken zu bauen.

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Was kann ich als Mutter oder Vater außerdem tun, wenn das Kind beispielsweise lebensmüde Gedanken äußert?

Schnellstmöglich einen Kinder- und Jugendpsychiater aufsuchen. Die haben jede Woche Notfalltermine. In so einer Situation kann ein Kind nicht abgewiesen werden. Wenn die Situation nicht so akut ist, kann man sich auch erst einmal an Erziehungs­beratungs­stellen wenden, im Netz Hilfe suchen, zum Beispiel auf unserer Webseite ich-bin-alles.de. Und wenn wirklich gar nichts mehr geht, das Kind etwa am Fenster steht oder Tabletten verschwunden sind, dann unbedingt direkt den Notarzt rufen.

Wollen diese jungen Menschen denn wirklich sterben, oder fehlen ihnen aufgrund ihrer geringen Lebens­erfahrung die Mittel und Wege, um sich angemessene Hilfe zu suchen?

Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt junge Menschen, die aufgrund ihrer schweren psychischen Erkrankung diesen Entschluss fassen und dadurch auch entlastet sind, die den Suizid vorbereiten und durchführen. Wir erleben bei Jugendlichen oft aber auch eine spontane Entscheidung, aufgrund eines für sie nicht lösbaren Konfliktes. Nicht selten gibt es Vorbilder etwa im Internet, oder dass im Bekanntenkreis ein Suizid passiert ist. Aber eigentlich wollen sie nicht sterben, wenn sie mit der Lebenssituation so unzufrieden sind. Sie haben den Impuls, eine Lösung zu finden, aber sie finden keine andere Lösung, weil sie so verzweifelt sind.

Warum ist die Gruppe der Pubertierenden in der Pandemie so aus dem Fokus geraten oder war gar nicht erst in ihm?

Ich befürchte es liegt daran, dass man sie eher als Erwachsene betrachtet und davon ausgeht, dass sie mit so einer Situation schon zurechtkommen. Ein Trugschluss.

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Wie könnte es künftig besser laufen?

Es ist es wichtig, dass man die Jugendlichen ernst nimmt, mit ihnen auf Augenhöhe spricht, statt über sie und sie etwa verteufelt, weil sie sich nicht an die Maßnahmen halten. Viele haben sehr verständnisvoll reagiert, was die Maßnahmen betrifft. Die soziale Teilhabe muss für Jugendliche zu 100 Prozent gewährleistet sein. Man darf nicht vergessen, dass die Pubertät eine vulnerable Entwicklungs­phase ist, in der sich auch das Gehirn entwickelt. Die sozialen Kompetenzen beispielsweise entwickeln sich auch im Gehirn. Es muss klar sein, das Jugendliche keine Erwachsenen sind. Da braucht es andere Maßstäbe.

Wie viele von den akut Erkrankten suchen sich denn Ihrer Erfahrung nach Hilfe, gerade in dieser vulnerablen Phase der Pubertät?

Man muss davon ausgehen, dass mindestens 60 Prozent der Behandlungs­bedürftigen nicht in Behandlung kommen.

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Was hält sie davon ab?

Es ist sicher auch eine Stigmatisierung, psychisch krank zu sein, gerade bei Kindern und Jugendlichen. Familien kommen häufig mit erheblichen Schuldgefühlen und haben auch Angst, damit rauszugehen, gegenüber der Schule oder den Nachbarn. Das ist ein Grundproblem.

Haben Sie Suizidgedanken?

Hier finden Sie Hilfe: Telefon-Hotline (kostenfrei, 24 h), auch Auskunft über lokale Hilfsdienste: 0800 - 111 0 111 (ev.) 0800 - 111 0 222 (rk.) 0800 - 111 0 333 (für Kinder / Jugendliche) Email: unter www.telefonseelsorge.de

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