Affenpocken: Experten kritisieren „moralisches Versagen“ gegenüber Afrika
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Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ziehe in Erwägung Pocken-Vakzine aus dessen Vorrat zu verwenden um die derzeitigen Ausbrüche weltweit zu begrenzen.
© Quelle: IMAGO/Bihlmayerfotografie
Osun. Lange war es in Europa und anderswo kein Thema, doch neuerdings werden Impfstoffe und Medikamente bereitgestellt, um die Affenpocken zu bekämpfen. Tatsächlich standen die Ressourcen dafür schon seit langem zur Verfügung, sagen Expertinnen und Experten - nur nicht für die Afrikanerinnen und Afrikaner, die es seit Jahrzehnten mit den Affenpocken zu tun haben.
Länder jenseits von Afrika haben mehr als 500 bestätigte Fälle gemeldet, viele anscheinend in Verbindungen mit Sex bei zwei jüngsten Raves in Europa. Es wurden aber keine Todesfälle registriert. In zahlreichen europäischen Ländern und den USA bieten die Behörden Impfungen an und erwägen den Einsatz von antiviralen Mitteln. Und die Weltgesundheitsorganisation WHO will am Donnerstag bei einem Sondertreffen Forschungsprioritäten in Sachen Affenpocken und andere mit der Krankheit zusammenhängende Fragen erörtern.
1400 Fälle und 63 Tote
Derweil hat Afrika in diesem Jahr schon etwa drei Mal so viele Fälle wie der Rest der Welt vermeldet - mehr als 1400 in Kamerun, im Kongo, in Nigeria und der Zentralafrikanischen Republik, wie die Gesundheitsbehörde Africa Centers for Disease Control and Prevention (Africa CDC) mitteilte. Und: Den Statistiken zufolge gab es 63 Todesfälle. In allen vier Ländern sind die Affenpocken endemisch.
Der Erreger stammt aus derselben Familie wie das Pockenvirus, und Pocken-Impfstoffe wirken der WHO zufolge schätzungsweise zu 85 Prozent gegen die Affenpocken. Seit im Mai Fälle in Großbritannien ausgemacht wurden, haben die zuständigen Behörden dort 20.000 Vakzindosen gekauft. Mehr als 1000 Menschen mit besonderen Infektionsrisiken sind bereits geimpft worden. Die EU steht in Gesprächen über den Kauf von Impfstoff des dänisch-deutschen Herstellers Bavarian Nordic, dem Produzenten des einzigen Vakzins dieser Art, das in Europa zugelassen ist. In den USA haben die Behörden 700 Impfstoffdosen für Bundesstaaten freigegeben, in denn Fälle registriert wurden.
Lauterbach bereitet Maßnahmen zur Eindämmung von Affenpocken vor
Nach den ersten Fällen von Affenpocken in Deutschland werden nach Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach weitere Eindämmungsmaßnahmen vorbereitet.
© Quelle: dpa
Experte sieht „rivalisierende Gesundheitsprioritäten“
Das sind Maßnahmen, die es in Afrika nicht gibt. So werden etwa in Nigeria derzeit weder Impfstoffe noch antivirale Arzneien gegen Affenpocken angewendet, wie Dr. Adesola Yinka-Ogunleye, Leiterin der staatlichen Affenpocken-Arbeitsgruppe im Land, bestätigt. Leute, bei denen die Krankheit vermutet werde, würden isoliert und konservativ behandelt. Generell habe Afrika stets nur über „kleine Vorräte“ an Vakzinen gegen diese Krankheit verfügt, um sie im Fall von Ausbrüchen Gesundheitsmitarbeiterinnen und -mitarbeitern anzubieten, sagt Ahmed Ogwell, amtierender Direktor der Africa CDC.
Dr. Jimmy Whitworth ist ein Professor für internationale öffentliche Gesundheit an der London School of Hygiene and Tropical Medicine. Er führt es auf ein „begrenztes Impfstoff-Angebot und rivalisierende Gesundheitsprioritäten“ zurück, dass man zu wenig für Immunisierungen in Afrika getan habe. Die Art und Weise, wie Ressourcen eingesetzt würden, habe auch etwas damit zu tun, wo es die Krankheitsfälle gebe, so Whitworth. Er nennt es ein „moralisches Versagen“, wenn die Ressourcen den Millionen Menschen in Afrika, die sie benötigten, nicht zugänglich seien.
WHO will Impfstoffvorräte für Europa freigeben - für Afrika nicht?
Die WHO verfügt über 31 Millionen Dosen an Pocken-Impfstoffen. Zumeist befinden sie sich in den Geberländern und sind als rasche Antwort in dem Fall gedacht, dass die 1980 für ausgerottet erklärte Krankheit wieder auftauchen sollte. Dosen aus diesem Vorrat sind niemals zur Eindämmung von Affenpocken-Ausbrüchen in Zentral- oder dem westlichen Afrika freigegeben worden.
Aber nun erwägt die WHO, es reichen Ländern zu erlauben, die Pocken-Vakzine zum Begrenzen der Affenpocken-Verbreitung zu benutzen. Das sagt Dr. Mike Ryan, der bei der Organisation für Krisensituationen zuständig ist. Ähnliche Mechanismen gibt es bei Impfstoffen gegen Krankheiten wie Gelbfieber und Meningitis, allerdings nur für ärmere Länder. Für Staaten, die sich Vakzine finanziell leisten könnten, wäre ein solcher Ansatz ein Novum.
Der nigerianische Virologe Oyewale Tomori hält es für vielleicht angebracht, mit Hilfe von Vakzinen aus den WHO-Vorräten zu verhindern, dass Affenpocken in reichen Ländern endemisch werden. Aber er sieht eine Diskrepanz in der Strategie der Gesundheitsorganisation. „Einen ähnlichen Ansatz hätte man vor langer Zeit anwenden sollen, um die Situation in Afrika handzuhaben“, sagt der Mediziner, der selbst in mehreren WHO-Beratergremien sitzt. „Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie manche Länder gleicher als andere sind.“
Braucht es erst Erkrankte in reichen Ländern?
Dr. Hugh Adler von der Liverpool School of Tropical Medicine meint, dass manchen Krankheiten nur dann beträchtliche Geldmittel zur Entwicklung von Arzneien gewidmet würden, wenn sich Menschen aus reichen Ländern infiziert hätten. Tatsächlich kam es erst nach dem katastrophalen Ebola-Ausbruch 2014 bis 2018 in Westafrika - als unter den mehr als 28.000 Erkrankten auch mehrere Amerikanerinnen und Amerikaner waren - zu einer Beschleunigung der Erforschung und Prozeduren zur Zulassung eines Ebola-Impfstoffes.
Jay Chudi ist ein Entwicklungsexperte im nigerianischen Bundesstaat Enugu, der seit 2017 Affenpocken-Fälle vermeldet hat. Chudi hat die Hoffnung, dass die zunehmende Aufmerksamkeit schließlich helfen könnte, das Problem anzugehen. Aber er beklagt zugleich, dass es Infektionen in reichen Ländern bedurfte, um das vielleicht möglich zu machen. „Man sollte denken, dass die neuen Fälle tödlicher und gefährlicher sind als das, was wir in Afrika haben“, sagt Chudi. „Aber dass wir jetzt sehen, dass es enden kann und für alle, liegt daran, dass es nicht länger nur Afrika betrifft. Jeder ist jetzt besorgt.“
RND/AP