Kann die Tuberkulose besiegt werden?
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/7ZNFBYUVTJEYHKB63SR3TYDARA.jpeg)
Liga Kuksa, Leiterin des WHO Collaborative Centers Für multiresistente Tuberkulose in Riga, Lettland, untersucht ein Bild aus einer Computertomografie der Lungen eines Tuberkulosepatienten. Im oberen Teil der rechten Lunge sieht man eine Hohlraumbildung, eine sogenannte Kaverne.
© Quelle: Christoph Lange
Berlin/Borstel. Lange her oder ganz woanders: Für die meisten Menschen in Deutschland klingt Tuberkulose (TB) irgendwie weit entfernt. Doch weltweit steigt die Zahl der Neuerkrankungen – und jährlich sterben grob 1,5 Millionen Menschen an der bakteriellen Infektionskrankheit. Dringend nötig wäre Experten und Expertinnen zufolge eine wirksame Impfung – mehrere Präparate werden derzeit getestet. Ob und wie sehr sie zur Bekämpfung der Krankheit beitragen können, muss sich noch zeigen.
Hierzulande ist die Tuberkulose vergleichsweise selten. Die Tendenz ist seit Jahrzehnten rückläufig – wenn auch zuletzt mit leichtem Anstieg, bedingt durch Zuwanderung etwa aus Osteuropa. Im Jahr 2022 registrierte das Robert Koch-Institut (RKI) 4076 Fälle der meldepflichtigen Erkrankung, das entspricht einer Inzidenz von 4,9 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner, nach 4,7 im Jahr zuvor.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/DMGOZCVWFNFMJBUMXEZCJBR5CM.jpg)
Das Leben und wir
Der Ratgeber für Gesundheit, Wohlbefinden und die ganze Familie - jeden zweiten Donnerstag.
Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.
So selten ist die bakterielle Infektionskrankheit zwischen Flensburg und Freiburg geworden, dass manche Mediziner und Medizinerinnen Hinweise darauf nicht mehr erkennen. „Wir sehen in Deutschland immer wieder Fälle, die erst sehr spät diagnostiziert werden“, sagt RKI-Expertin Barbara Hauer. Selbst bei einem auffälligen Röntgenbild würden Ärzte und Ärztinnen mitunter nicht mehr an Tuberkulose denken.
Rückgang der „Schwindsucht“
Noch vor 100 Jahren war die Lage grundlegend anders: Im Jahr 1923 – und damals war Tuberkulose schon auf dem Rückzug – erlagen in Baden und Württemberg noch immer mehr als 10 Prozent aller Verstorbenen der im Volksmund Schwindsucht genannten Krankheit, so das statistische Landesamt. Zum Vergleich: 2022 starben laut RKI bundesweit 116 Menschen an Tuberkulose.
Entscheidend für den Rückgang seit dem 19. Jahrhundert waren nicht die besseren Behandlungsmöglichkeiten und auch nicht der bereits 1921 entwickelte Impfstoff BCG (Bacille Calmette-Guérin), der abgeschwächte Rindertuberkulose-Bakterien enthält und erst seit 1998 in Deutschland wegen des geringen Infektionsrisikos nicht mehr empfohlen wird. Den Ausschlag gaben die Lebensbedingungen: Hygiene, bessere Ernährung, weniger beengte Wohnverhältnisse.
Tuberkulose 2040 in Europa eliminiert?
„Keine andere Erkrankung spiegelt so sehr die sozialen Verhältnisse wider“, sagt Christoph Lange, medizinischer Direktor des Forschungszentrums Borstel. Für die jüngere Vergangenheit zeigt das ein Blick ins Baltikum: In Estland lag die Inzidenz im Jahr 2000 – kurz vor dem EU-Beitritt 2004 – noch bei 65 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner, 2021 waren es neun. In Lettland sank sie im gleichen Zeitraum von 95 auf 16 – in beiden Ländern ein Rückgang um weit über 80 Prozent. Im gesamten europäischen Wirtschaftsraum – die EU plus Liechtenstein, Norwegen und Island – lag die Inzidenz 2019 unter zehn pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner. „Wenn der Trend anhält, wäre Tuberkulose im europäischen Wirtschaftsraum bis 2040 weitgehend eliminiert“, sagt Lange.
Was ermutigend klingt, weicht bei einem Blick über dieses Gebiet hinaus schnell Ernüchterung. „Weltweit ist Tuberkulose die bakterielle Infektionskrankheit mit den meisten Todesfällen“, sagt Ralf Otto-Knapp vom deutschen Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose (DZK) in Berlin. Der Mediziner verweist darauf, dass im Jahr 2021 weltweit etwa 1,6 Millionen Menschen an Tuberkulose starben – mehr als in den Jahren zuvor.
„Die Krankheit kommt langsam, und sie geht langsam“
Dabei hatte sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorgenommen, die TB-Inzidenz bis 2035 im Vergleich zu 2015 um 90 Prozent zu senken, die Mortalität sogar um 95 Prozent. Doch zuletzt ist die weltweite Krankheitslast sogar gestiegen. Im Jahr 2021 lag die globale Inzidenz laut WHO bei 134 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner und Einwohnerinnen, das entspricht 10,6 Millionen Fällen. „So viele Neuerkrankungen hat es noch nie in einem Jahr gegeben“, sagt Lange. In Afrika lag die Inzidenz 2021 bei 212, in Süd- und Ostasien sogar bei 234.
Und die Behandlung einer Tuberkulose ist extrem langwierig. „Die Krankheit kommt langsam, und sie geht langsam“, sagt Lange. Die langwierige Therapie hängt vor allem damit zusammen, dass sich die Bakterien nur sehr langsam vermehren. Die Generationszeit dauert grob 20 Stunden. Zum Vergleich: Bei Kolibakterien sind es nur 20 Minuten.
Die Infektion mit dem Erreger – vor allem Mycobacterium tuberculosis, dessen Entdeckung Robert Koch am 24. März 1882 in Berlin verkündete – erfolgt überwiegend durch Tröpfchen und betrifft meist die Lunge, prinzipiell können die Erreger aber auch andere Organe besiedeln. Entsprechend unterschiedlich ist das Spektrum möglicher Symptome, das von Husten über Müdigkeit, Appetitmangel, Nachtschweiß und Fieber bis zu Gewichtsabnahme reicht.
Kampf gegen HIV hilft
Allerdings erkrankt nur ein geringer Teil der Infizierten – manchmal erst nach Jahren. Und weil ein gesundes Immunsystem den Erreger in Schach halten kann, ist die mancherorts häufige Kombination von Tuberkulose und einer Infektion mit dem Immunschwäche-Erreger HIV besonders übel. In Afrika betrifft das fast 20 Prozent der 2,5 Millionen TB-Patienten und ‑Patientinnen.
Daher hilft gerade die HIV-Behandlung dem Kampf gegen Tuberkulose: Nachdem antiretrovirale HIV-Therapien auch in ärmeren Ländern verfügbar wurden, sei der Anteil von HIV-infizierten Patientinnen und Patienten mit einer Tuberkulose weltweit um mehr als zwei Drittel gesunken, sagt Lange. „Das war die wirksamste Maßnahme zur Kontrolle der Tuberkulose in den letzten zehn Jahren.“
Die Tuberkulose-Therapie selbst erfolgt mit speziellen Antibiotika. Die Standardbehandlung erfordert derzeit sechs Monate: vier Präparate über zwei Monate, dann zwei Arzneien über vier Monate. „Die Behandlung dauert sehr lange“, sagt Otto-Knapp. „Zu viele Patienten setzen die Medikamente ab, wenn es ihnen besser geht.“ Das mag angesichts oft gravierender Nebenwirkungen nachvollziehbar sein. Doch der Abbruch verhindert nicht nur eine Heilung, sondern begünstigt auch das Entstehen von resistenten Erregern, gegen die manche Arzneien machtlos sind. Und die Eliminierung resistenter Erreger dauere mit 18 bis 24 Monaten noch deutlich länger, sagt Lange, und das bei geringerer Erfolgsrate.
Behandlung ändert sich derzeit
Doch die Behandlung ändert sich zurzeit. „Wir leben in einer sehr spannenden Zeit, was Tuberkulose betrifft“, sagt Lange. Über Jahrzehnte habe die Therapie stagniert. Erst seit den 1990er-Jahren kamen neue Präparate hinzu.
Sorge macht Expertinnen und Experten die rasche Entwicklung von Resistenzen. Weltweit tragen schätzungsweise 450.000 Menschen multiresistente Erreger. „Davon kennt man nur 150.000, die übrigen 300.000 bleiben unbehandelt“, erläutert Lange. Demnach sind allein gegen Bedaquilin – dem nach Ansicht des Experten derzeit besten Wirkstoff – in Moldawien bereits 15 Prozent der multiresistenten Erregerstämme resistent, in Südafrika bei Menschen, die nicht auf eine Therapie ansprechen, sogar 30 Prozent. „Und das Mittel ist erst seit wenigen Jahren auf dem Markt.“
In manchen Ländern, wie etwa Russland – geschätzte Inzidenz: 47 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner – ist mehr als die Hälfte der Erkrankten mit multiresistenten Erregern infiziert. Zum Vergleich: In Deutschland liegt der Anteil multiresistenter Fälle laut RKI-Expertin Hauer derzeit bei knapp 6 Prozent.
Impfstoffe werden getestet
Angesichts der globalen Lage betont Lange: „Ohne Impfung werden wir die Situation nicht in den Griff kriegen.“ Zwar wird das seit den 1920er-Jahren verwendete BCG-Vakzin in Risikogebieten noch sehr viel genutzt, der Impfschutz ist jedoch begrenzt.
Derzeit werden weitere Impfstoffe getestet. Dazu zählt insbesondere das Präparat VPM1002, maßgeblich mitentwickelt von Stefan Kaufmann, dem inzwischen emeritierten Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für Infektionsbiologie in Berlin. VPM1002 enthält abgeschwächte BCG-Bakterien, die genetisch so verändert sind, dass das Immunsystem sie besser erkennt.
Dass das Präparat sicher ist und wirkt, haben Studien bereits belegt. Wie gut die Impfung tatsächlich bei verschiedenen Szenarien schützt, testen derzeit drei klinische Phase-3-Studien. Eine davon prüft in fünf afrikanischen Ländern südlich der Sahara, wie gut der Impfstoff Neugeborene über drei Jahre schützt, im Vergleich zum BCG-Präparat.
Die beiden anderen Studien laufen in Indien, wo mehr als ein Viertel aller Erkrankten weltweit lebt. Ministerpräsident Narendra Modi verfolgt das ehrgeizige Ziel, die Krankheit bis 2025 zu eliminieren. Gleichzeitig verfügt das Land mit dem Serum Institute of India über den weltweit größten Hersteller von Impfstoffen.
Biontech forscht an Tuberkulose-Impfstoff
Eine der Studien vergleicht VPM1002 mit einem anderen neuen Präparat. Daran nehmen 12.000 Menschen teil, die in Haushalten mit TB-Patientinnen oder TB-Patienten leben und daher besonders gefährdet sind. Ein Teil der Probanden bekommt VPM1002, ein anderer den von einem indischen Unternehmen entwickelten Impfstoff Immuvac/MIP, eine dritte Gruppe bleibt ungeimpft. Resultate erwartet Kaufmann Ende diesen oder Anfang nächsten Jahres. Die zweite Studie in Indien prüft VPM1002 an 2000 Menschen, bei denen eine Tuberkulose zuvor erfolgreich behandelt worden war. Sie testet, ob die Impfung einen Rückfall verhindern kann.
Kaufmann hofft, dass die Impfung besser oder verträglicher schützt als das BCG-Vakzin – am besten beides. Der Immunologe würde einen Impfschutz von 75 Prozent als Erfolg werten. „Ich bin kritisch, dass man einen Schutz von 100 Prozent erreicht“, sagt er.
Auch das Mainzer Pharmaunternehmen Biontech forscht an einem Tuberkulose-Impfstoff. Eine klinische Studie, die zunächst die Sicherheit und optimale Dosis des mRNA-Präparats BTN164 an knapp 100 Menschen testet, soll demnächst in Deutschland starten. Resultate werden Ende 2025 erwartet.
So hilfreich medizinische Fortschritte im Kampf gegen die Tuberkulose sind – weltweit bessere Lebensbedingungen wären vermutlich noch bedeutsamer. „Soziale Fragen sind extrem wichtig“, sagt Kaufmann. „Aber die sind möglicherweise noch schwieriger zu lösen als die medizinischen.“
RND/dpa