Warum sich so wenige Menschen in Russland impfen lassen wollen
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Ein medizinischer Mitarbeiter bereitet eine Spritze mit dem in Russland entwickelten Corona-Impfstoff „Sputnik V" vor. (Archivbild)
© Quelle: Pavel Golovkin/AP/dpa
Moskau. Dr. Georgi Arbolischwili muss keine Regierungsstatistiken lesen oder die ständig neuen Rekordzahlen von Corona-Opfern hören, um zu wissen, wie ernst die Lage in Russland ist. Seine bis zur Grenze gefüllte Intensivstation im Moskauer Krankenhaus Nr. 52 führt ihm das täglich vor Augen.
Nur ein Drittel der 146 Millionen Menschen in Russland sind gegen Covid-19 geimpft, und nachdem die tägliche Zahl der Toten wochenlang knapp unter 1000 geblieben war, wurde diese Marke am vergangenen Samstag überschritten – eine Situation, die Arbolischwili zufolge „Verzweiflung auslöst“.
„Die Mehrheit der Patienten auf der Intensivstation in ernstem Zustand ist ungeimpft“, sagte der Arzt der Nachrichtenagentur AP. Diese Erkrankungen hätten sich durch Impfungen „sehr leicht vermeiden lassen“.
Mehr als 226.000 Tote in Russland
Nach den 1028 neuen Todesfällen, die am Mittwoch gemeldet wurden, lag die Zahl der Toten bei mehr als 226 0000 – bei weitem die höchste in Europa, wobei die meisten Fachleute davon ausgehen, dass die tatsächliche Zahl sogar noch höher liegt.
Russland hat einen reichlichen Vorrat an Vakzinen. Aber die Menschen zögern schlicht, die Ärmel hochzuschieben, sind skeptisch, was viele auf widersprüchliche Signale der zuständigen Stellen im Land zurückführen. Und obwohl sich die Intensivstationen in den vergangenen Wochen alarmierend gefüllt haben, ging das Leben in Moskau wie gewohnt weiter. In Restaurants, Kinos, Nachtklubs und Karaoke-Bars wimmelte es von Menschen, und Maskenvorschriften wurden in den öffentlichen Verkehrsmitteln weitgehend ignoriert.
Arbeitsfreie Woche für Beschäftigte im öffentlichen Sektor
Das lässt Medizinerinnen wie Natawan Ibragimowa schaudern. „Ich denke an die schlaflosen Nächte, wenn wir eine riesige Zahl von Patienten erhalten, die sich nicht mal darum geschert haben, banale Schutzmittel zu benutzen“, sagt die Internistin im Krankenhaus Nr. 52.
Der Kreml hat bislang einen neuen landesweiten Lockdown ausgeschlossen. Eine solche Maßnahme im frühen Stadium der Pandemie hatte die Wirtschaft schwer getroffen und an der Popularität von Präsident Wladimir Putin gezehrt. Angesichts der jüngsten Infektionswelle ordnete Putin am Mittwoch an, dass die meisten Beschäftigten im öffentlichen Sektor demnächst eine Woche lang nicht zur Arbeit kommen.
Druck gegen Impfunwillige erhöhen
Die Behörden haben auch den Druck auf Mitarbeitende im medizinischen Bereich, Lehrer, Lehrerinnen und öffentliche Bedienstete erhöht, sich impfen zu lassen. Aber das Tempo ist lahm geblieben. Putin selbst hat die Bedeutung von Impfungen unterstrichen, aber zugleich betont, dass sie freiwillig sein sollten. Kremlsprecher Dmitri Peskow räumte derweil ein, dass die Regierung zwar alles getan habe, um Vakzine leicht zugänglich zu machen, aber bei der Werbung für deren Nutzen aktiver hätte sein sollen. „Offensichtlich hätte mehr dafür getan werden sollen, den Mangel an Alternativen zum Impfen zu erklären“, sagte er.
Die Behörden haben Impfstellen in Einkaufszentren und an anderen Orten eingerichtet, wer die Spritze haben will, muss sich vorher nicht anmelden und zumeist auch nicht warten. Es gab auch Lotterien, Bonusse und andere Anreize, sich impfen zu lassen – aber mit wenig Erfolg.
Medien unabsichtlich Skepsis geschürt
Im August 2020 hatte sich Russland damit gebrüstet, das erste Land auf der Welt zu sein, das einen Corona-Impfstoff genehmigte, obwohl er zu diesem Zeitpunkt erst an ein paar Dutzend Menschen erprobt worden war. Das Vakzin wurde stolz Sputnik V genannt, wie seinerzeit der erste Satellit auf der Welt, was offenbar den Pioniergeist und die wissenschaftlichen Errungenschaften des Landes unterstreichen sollte.
Während Sputnik V und drei später im Land entwickelte Vakzine angepriesen wurden, äußerten sich staatliche Medien abfällig über im Westen produzierte Impfstoffe. Viele glauben, dass das unbeabsichtigt Skepsis in der Bevölkerungen gegenüber Vakzinen an sich genährt hat.
Kein Lockdown, aber Maßnahmen
Will der Kreml keinen neuen nationalen Lockdown, so hat er regionalen Stellen grünes Licht für Restriktionen in eigener Regie gegeben, je nachdem, wie es die jeweilige örtliche Lage erfordert. Viele der 85 russischen Regionen haben bereits die Teilnahme an öffentlichen Großveranstaltungen und den Zugang zu Kinos, Restaurants und anderen Einrichtungen beschränkt. In einigen Fällen sind jetzt auch Impfungen für öffentliche Bedienstete und Menschen im Alter von über 60 Jahren zur Pflicht gemacht worden.
Die Leiterin der staatlichen Corona-Arbeitsgrupe, die stellvertrtende Ministerpräsidentin Tatjana Golikowa, hat die Regionen auch aufgerufen, schnell digitale Codes für den Zugang zu öffentlichen Veranstaltungen und Einrichtungen einzuführen. Sie dienen als Nachweis von Impfungen oder einer überstandenen Infektion und werden beispielsweise in St. Petersburg, Russlands zweitgrößter Stadt, ab 1. November stufenweise zur Voraussetzung für den Besuch von Sportveranstaltungen, Kinos, Theatern, Museen, Fitnesszentren, Restaurants und einigen Geschäften gemacht.
Mehr als acht Millionen Infektionen in Russland
St. Petersburg weist die zweithöchste Zahl von Neuinfektionen in Russland auf, nach Moskau, das bisher weitgehend auf eine Verschärfung von Restriktionen verzichtet hat. Allerdings soll ungeimpften Einwohnerinnen und Einwohnern über 60 vorgeschrieben werden, zu Hause zu bleiben.
Insgesamt hat die Regierung bislang landesweit mehr als acht Millionen Infektionen verzeichnet und listet Russland bei der Zahl der Corona-Toten an fünfter Stelle auf der Welt auf, nach den USA, Brasilien, Indien und Mexiko. Aber die staatliche Statistikbehörde Rosstat, die auch Fälle mitzählt, bei denen Covid nicht als Haupttodesursache betrachtet wurde, kommt auf eine weitaus höhere Zahl – ungefähr 418.000 bis August.
Auf dieser Basis wäre Russland die am viertstärksten betroffene Nation.
RND/AP