„Nach wie vor ein wichtiger Wert“: Experten kritisieren Abschied von der Inzidenz
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Eine Mitarbeiterin des Testzentrums hält einen Teststab für einen Schnelltest auf das Coronavirus in ihren Händen (gestellte Szene).
© Quelle: Moritz Frankenberg/dpa
Künftig sollen voraussichtlich keine Einschränkungen wegen Corona ab einer Inzidenz von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen mehr greifen. Stattdessen soll unter anderem die Belastung in den Krankenhäusern als ein neuer Maßstab im Infektionsschutzgesetz eingeführt werden. Man sei sich einig, dass Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zügig einen entsprechenden Vorschlag machen und das Bundeskabinett diesen dann beschließen solle, teilte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag in Berlin mit.
Laut Berichten von Reuters und der „Bild“ habe man sich darauf verständigt, dass künftig die Belastung des Gesundheitssystems (Hospitalisierung) der neue, entscheidende Faktor in der Corona-Pandemie sein solle. Experten kritisieren dies.
Intensivmediziner für „Dreiklang“
„Bei exponentiellem Wachstum ist das nach meinem Verständnis eher schlecht”, gab Prof. Martin Kriegel, Leiter des Hermann-Rietschel-Instituts an der Technischen Universität Berlin, auf Twitter zu bedenken. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin, Christian Karagiannidis, sprach sich ebenfalls auf Twitter für einen „Dreiklang“ aus: Bei der Beurteilung des Infektionsgeschehens müssten neben der Inzidenz als „Frühwarnung, gerne auch dichotom nach Alter (über und unter 35 Jahre)“, die Hospitalisierung und die Intensivbelegung herangezogen werden – „unter Beachtung der Dynamik (R-Wert und Verdopplungszeit)“.
Für denselben Indikatorenmix plädiert auch Prof. Stephan Ludwig. „Der Inzidenzwert ist aus meiner Sicht nach wie vor ein wichtiger Wert, da er als einziger Parameter die initiale Infektionsrate aufzeigt“, sagte der Virologe vom Universitätsklinikum Münster gegenüber dem RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND). „Hospitalisierungen und Auslastung der Intensivstationen sind wichtige Parameter zur konkreten Einschätzung der Belastung unseres Gesundheitssystems, greifen aber als alleinige Größen zu spät im Verlauf des Infektionsgeschehens an.“ Gehe man davon aus, dass es einen zeitlichen Verzug zwischen Infektion und Hospitalisierung von mehreren Wochen gibt, „ist es bei alleiniger Betrachtung der Hospitalisierungsrate eventuell zu spät für Gegenmaßnahmen, da man zu spät sieht, welche Welle auf einen zurollt“.
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Prof. Reinhard Busse, Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen an der TU Berlin und Co-Direktor des European Observatory on Health Systems and Policies, hatte bereits Anfang August bei einer Veranstaltung des Science Media Centers (SMC) vor einer unzureichenden Datenlage im Zusammenhang mit der Hospitalisierungsrate gewarnt. Mit der neuen Verordnung, die die Kliniken verpflichtet, mehr Daten zu den Patientinnen und Patienten zu melden, sei man nur „einen halben Schritt” gegangen. „Wir wissen zwar in Zukunft potenziell besser und schneller, welche Personen überhaupt ins Krankenhaus kommen, aber ob sie dann einen Tag oder 20 Tage dort sind, ob sie zwischendurch auf die Intensivstation kommen und beatmet werden, das wird nicht erfasst“, sagte er.
Impfquote nimmt Einfluss auf Sieben-Tage-Inzidenz
Die Sieben-Tage-Inzidenz als Corona-Richtwert ist seit längerer Zeit umstritten. Schon im Juli hatte Bundesgesundheitsminister Spahn gegenüber der „Bild“-Zeitung darauf hingewiesen, dass die Kennzahl zunehmend an Aussagekraft verliere. Dies ist der steigenden Impfquote geschuldet. Viele Menschen in den Risikogruppen haben mittlerweile eine Corona-Impfung erhalten, die das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf deutlich reduziert. „Auch eine hohe Inzidenz, zum Beispiel von 400 Fällen pro 100.000 Einwohner, führt nicht automatisch zur hohen Belastung oder Überlastung des Gesundheitssystems“, hatte Prof. Bernd Salzberger, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie, vor zwei Wochen im Gespräch mit dem RND erläutert.
Deshalb hatten sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder bei ihrem Treffen am 10. August darauf verständigt, die Infektionslage anhand mehrerer Indikatoren zu bewerten. Dabei sollte die Sieben-Tage-Inzidenz weiterhin Gewicht haben, zusätzlich zur Impfquote, zur Zahl schwerer Krankheitsverläufe sowie zur Belastung des Gesundheitswesens. Einige Bundesländer, darunter Niedersachsen und Baden-Württemberg, hatten sich nach dem gemeinsamen Treffen jedoch schnell von der Inzidenz als Parameter abgewandt.
Dabei hatte sich auch das Robert Koch-Institut für die Inzidenz als Corona-Indikator starkgemacht. „Die Inzidenz ist Leitindikator für Infektionsdynamik (hohe Inzidenzen haben zahlreiche Auswirkungen)“, hieß es in einem Bericht, den Lothar Wieler, Chef der Berliner Behörde, Ende Juli bei einer Schaltkonferenz mit den Chefinnen und Chefs der Staatskanzleien der Länder vorgestellt hatte. Die Corona-Kennzahl bleibe wichtig, um die Situation in Deutschland zu bewerten und „frühzeitig Maßnahmen zur Kontrolle“ einzuleiten.