Adipositasexpertin zur Pandemie: „Manche Kinder haben eineinhalb Jahre nur auf der Couch gelegen“

Je eher mit der Übergewichtsprävention begonnen wird, desto besser.

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Vor einigen Monaten warnten Experten bereits vor einer sogenannten stillen Pandemie – und bezogen sich damit auf die Gewichtszunahme der Kinder. War diese Warnung berechtigt?

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Ja, absolut. Das ist etwas, was lange nicht gesehen wurde. Und dabei geht es nicht nur um eine Gewichtszunahme. Die tritt ja oft in Kombination mit psychosozialen Belastungen auf. Angst, Depression — das sind alles Folgen der Pandemie, die parallel massiv zugenommen haben.

Gibt es aktuelle Zahlen zum Übergewicht von Kindern?

Wir haben leider keine repräsentativen Zahlen. Es gibt aber zum Beispiel eine relativ gute Erhebung in Sachsen. Im Leipziger Raum existiert eine große Datenbank, in die Daten von Kinderärztinnen und -ärzten eingehen. Dort zeigt sich eine Zunahme an Übergewicht und Adipositas bei Kindern während des Lockdowns. Und wir sehen das natürlich in unserer täglichen Arbeit. Wir waren immer schon so ausgelastet, dass wir nur alle paar Monate neue Patienten aufnehmen können. Aber wir sehen eine zusätzliche Verschärfung der Versorgungssituation.

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Inwiefern hat sich die Situation der Kinder verändert?

Uns fällt auf, dass viele Kinder wirklich extrem zugenommen haben. Wir sprechen hier von Schulkindern, die 20, 30 Kilo mehr wiegen und Jugendliche mit einer extremsten Adipositas. Also 150 Kilo aufwärts — mit den entsprechenden gesundheitlichen Folgen. Das haben wir in dieser Ausprägung vor der Pandemie nicht in dieser Häufigkeit gesehen.

Massive Zunahme von Mediennutzung und -sucht

Sind übergewichtige Kinder denn jetzt noch übergewichtiger geworden oder sind mehr Kinder von Übergewicht betroffen?

Ob tatsächlich mehr Kinder betroffen sind, wissen wir eben nicht gesichert, weil es bisher keine repräsentativen Daten gibt. Zum Beispiel fehlen in Berlin aus zwei Jahren die Daten der Schuleingangsuntersuchungen. Aber wir gehen davon aus, dass es bei Kindern und Jugendlichen während der Pandemie zu einer deutliche Zunahme von Übergewicht und Adipositas gekommen ist.

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Uns fällt auf, dass viele Kinder wirklich extrem zugenommen haben. Wir sprechen hier von Schulkindern, die 20, 30 Kilo mehr wiegen und Jugendliche mit einer extremsten Adipositas.

Und Sie führen das auf den Lockdown zurück?

Das hängt für uns schon mit Corona und den Lockdownfolgen zusammen. Gerade in den prekären Verhältnissen hat das mit dem Onlineunterricht teilweise sehr mäßig geklappt. Manche Jugendliche haben mehr oder weniger anderthalb Jahre auf der Couch gelegen. Mediennutzung und auch Mediensucht haben massiv zugenommen. Durch einen verschobenen Tag-Nacht-Rhythmus haben sie tagsüber geschlafen und sich gar nicht mehr bewegt. Nachts waren sie dafür wach. Aus dieser Spirale kommen einige Jugendliche nicht ohne therapeutische Unterstützung heraus.

Dr. Susanna Wiegand, pädiatrische Endokrinologin und Diabetologin und Leiterin der pädiatrischen Adipositas-Ambulanz im Sozialpädiatrischen Zentrum der Berliner Charité.

Dr. Susanna Wiegand, pädiatrische Endokrinologin und Diabetologin und Leiterin der pädiatrischen Adipositas-Ambulanz im Sozialpädiatrischen Zentrum der Berliner Charité.

Welche Kinder finden denn dann zu Ihnen?

Wir sehen die Spitze des Eisbergs. Manchmal kommen die Kinder über die Jugendämter oder Familiengerichte. Oder es sind niedergelassene Kolleginnen und Kollegen, die die Kinder mit starkem Übergewicht in ihrer Praxis nicht ausreichend betreuen können. So fehlen dort Ernährungsberatung, aber auch Sport- und Psychotherapie.

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Vielfältige körperliche und psychische Folgeerkrankungen

Was passiert dann in der Adipositas-Ambulanz?

Uns geht es dann erst einmal darum, Ursachen und Folgen anzuschauen. Dazu gehört eine ausführliche Diagnostik: Hormone, Zucker- und Fettstoffwechsel, Blutdruck aber auch orthopädische Veränderungen. Wie belastbar sind sie? Psychosoziale Probleme wie Angststörungen oder Depression können eine psychiatrische Diagnostik erfordern. Neben der Diagnostik müssen wir für die Behandlung auch die Ressourcen der Familien berücksichtigen. Die sind oft begrenzt. Adipositas ist eine Erkrankung, die häufiger assoziiert ist mit einem niedrigen Sozialstatus.

Ab wann sprechen wir eigentlich von Übergewicht?

Die Definition ist nicht ein fester BMI (Body-Maß-Index) wie bei Erwachsenen, weil Kinder ja noch wachsen. Darum gibt es BMI-Perzentilen für das jeweilige Alter und Geschlecht. Zwischen der 90. und 97. Perzentile sprechen wir vom Übergewicht, alles oberhalb der 97. Perzentile gilt als Adipositas, also als ein starkes Übergewicht.

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Welche Folgen hat das für die Kinder?

Mögliche Folgen sind Diabetes, hoher Blutdruck, Fettleber. Pubertätsstörungen und orthopädische Probleme können dazu kommen. Neben den körperlichen Folgen einer Adipositas gibt es vielfältige psychische Folgen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen. Sie erfahren häufig Stigmatisierung in ihrem Umfeld etwa in der Schule. Depressionen und Angststörungen sind – wie bereits erwähnt – die häufigsten psychiatrischen Begleiterkrankungen.

Adipositas ist eine Erkrankung, die häufiger assoziiert ist mit einem niedrigen Sozialstatus.

Nicht immer ist es gleich das starke Übergewicht, manchmal sprechen wir nur über ein paar Kilo an Gewichtszunahme. Ab wann sollten Eltern trotzdem aufmerksam werden?

Da gibt es einmal den körperlichen Bereich, wenn Kinder weniger leistungsfähig sind, wenn sie keinen Spaß mehr daran haben, draußen zu toben, wenn sie weniger ausdauernd sind, weniger Fahrrad fahren können. Also alles Dinge, die im normalen Alltag von Kindern eine Rolle spielen sollten. Wenn eine Familie aber ohnehin wenig aktiv ist, dann merken das Eltern vielleicht auch gar nicht. Und dann ist es wieder Aufgabe der Profis, die Familien entsprechend zu beraten und Veränderungsmöglichkeiten zu finden.

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Übergewichtsprävention ist extrem wichtig

Wie lange brauchen Kinder, um das Übergewicht wieder zu verlieren?

Das ist sehr unterschiedlich. Das Übergewicht und insbesondere starkes Übergewicht bei Kindern hat auch eine genetische Komponente. Das heißt, die Gewichtsentwicklung ist bei Kindern und Jugendlichen zu circa 50 Prozent durch die angeborenen Anlagen bestimmt. Und diese Veranlagung bleibt. Deswegen sollten wir möglichst frühzeitig handeln, denn der Weg zurück aus einem starken Übergewicht ist ein schwieriger. Dagegen ist es bei wenig Übergewicht völlig ausreichend, wenn ein Kind nur wächst und das Gewicht gleichbleibt. Bei sehr starkem Übergewicht hingegen werden sogar Sollwerte im Gehirn verstellt. Das macht es einem Jugendlichen sehr schwer, nach einer Abnahme das Gewicht zu halten. Es kommt dann zum sogenannten „Jojo-Effekt“.

Übergewicht ist natürlich nie gut. Ist es aber in der Kindheit und Jugend vielleicht besser behandelbar? Oder wiegen die Folgen vielleicht sogar schwerer?

Es ist natürlich ungünstiger, je länger ein Übergewicht besteht. Wenn ich ab Kleinkindalter übergewichtig bin, bestehen natürlich die negativen Auswirkungen über eine längere Zeit meines Lebens, als wenn ich mit 40 oder 50 Jahren erst ein Übergewicht entwickle. Hinzu kommt, dass die angeborene Komponente der Entstehung des Übergewichts bei Kindern stärker ist, als bei Erwachsenen. Und wenn Sie am Abschluss der körperlichen Entwicklung noch ein Übergewicht haben, ist statistisch gesehen die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass das im Laufe Ihres Lebens noch mal loswerden. Deshalb ist die Übergewichtsprävention bei Kindern so wichtig.

Was bedeutet das für uns als Gesellschaft, wenn deutlich mehr Kinder und Jugendliche an Übergewicht und den entsprechenden Folgen leiden?

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Es bedeutet, dass im Extremfall Jugendliche mit extremem Übergewicht bereits viele Einschränkungen und Folgeerkrankungen haben und dadurch nur eine sehr geringe Chance besteht, in einen normalen Arbeitsprozess zu kommen. Ich hatte gestern einen Jugendlichen in der Sprechstunde, der eine Lehre als Industriemechaniker beginnen möchte. Ein kluger Kerl, der das sicher schaffen könnte. Aber wenn er mit seinen 140 Kilo zur Arbeitsschutzuntersuchung seines künftigen Betriebes kommt, kann es sein, dass Bedenken gegen seine Einstellung bestehen. Da gibt es die Sorge um die körperliche Leistungsfähigkeit, aber auch Probleme mit der Arbeitssicherheit. Nicht alle Leitern oder Stühle sind bis 140 Kilogramm belastbar.

Depressionen und Angststörungen sind – wie bereits erwähnt – die häufigsten psychiatrischen Begleiterkrankungen.

Gesunde Lebensumgebung ist entscheidend

Was empfinden Sie in solchen Situationen?

Wir versuchen gerade Jugendliche mit extremem Übergewicht in der Phase der Berufsfindung auf diese Situationen vorzubereiten und – im besten Fall – rechtzeitig eine Gewichtsabnahme zu erreichen, um die Chancen zu verbessern. Aber wir würden uns natürlich wünschen, dass die gesellschaftlichen Bedingungen günstiger wären.

Was bräuchten diese Kinder und Jugendlichen von der Gesellschaft?

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Im Moment wird von den Betroffenen erwartet, dass sie ihr individuelles Verhalten ändern. Ein Kind mit Übergewicht soll etwa weniger Süßigkeiten essen. Das funktioniert aber selten langfristig und verstärkt die Stigmatisierung. Für die Gesellschaft wäre deshalb eine Verhältnisprävention viel effektiver und sinnvoller, indem wir schauen, wie die Verhältnisse gestaltet sein müssen, um allen Kindern ein gesundes Aufwachsen zu ermöglichen. Der Charme dabei ist: Wenn ich für eine gesunde Umgebung der Kinder sorge, bekomme ich zur Prävention der Adipositas eine Entwicklungsförderung für alle Kinder gleich mit dazu.

Wie sieht eine Verhältnisprävention konkret aus?

Das könnte bedeuten, die Schulwege so sicher zu machen, dass Kinder sicher zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Schule kommen können. Es könnte bedeuten, den Schulunterricht noch aktiver zu gestalten und gesündere Schulverpflegung anzubieten. Dazu könnte aber auch ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel mit Spiel- und Kaufanreizen zählen. Die Softdrinksteuer in Südamerika zum Beispiel hat einen Effekt auf die Übergewichtshäufigkeit insgesamt gezeigt. Das sind alles Beispiele für Maßnahmen, die eigentlich gut umsetzbar sind.

Warum passiert es dennoch nicht?

Die Wirksamkeit der Maßnahmen ist vielfach belegt. Es fehlt bei der Umsetzung oft der politische Wille. Insgesamt haben wir nicht erst seit Beginn der Pandemie als Kinderärztinnen und -ärzte den Eindruck, dass die Gesundheit und gesellschaftliche Teilhabe von Kindern und Jugendlichen nicht ganz oben auf der politischen Agenda steht.

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Weitere Informationen, auch zu den BMI-Perzentilen, gibt es auf der Seite der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kinder- und Jugendalter:

https://adipositas-gesellschaft.de/aga/

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