Gesundheitsexpertin: „Zittern reduziert Rückenschmerzen“
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Viele Bürger leiden unter Rückenschmerzen. Wie ausgerechnet Zittern dagegen hilft, erklärt eine Expertin im RND-Interview.
© Quelle: Christin Klose/dpa-tmn/dpa
Stundenlanges Sitzen, wenig Bewegung: Viele Menschen leiden heutzutage unter Rückenschmerzen. Gesundheitsexpertin Ulrike Balke-Holzberger empfiehlt eine ganz besondere Therapie: das Zittern.
Frau Balke-Holzberger, vor Kälte oder Angst zu zittern ist nicht angenehm. Sie plädieren für das Zittern, um Rückenschmerzen zu lindern. Was hat es damit auf sich?
Ulrike Balke-Holzberger: Grundsätzlich ist das Zittern – Fachleute nennen das auch neurogenes Zittern – ein ganz natürlicher körperlicher Vorgang, der in jedem von uns genetisch angelegt ist. Wir kennen das aus schönen Situationen vor allem aus der Kindheit: Wenn es besonders spannend wurde, zum Beispiel am Geburtstag, fingen wir an zu zittern. Einen negativen Beigeschmack bekommt es, wenn wir an Prüfungen denken. Da haben uns in der Schule aus Angst schon mal die Hände gezittert oder die Knie geschlottert. Beide Situationen, die angenehme wie die unangenehme, bedeuten Stress. Darauf reagiert der Körper und reguliert sich selbst, indem er die Anspannung quasi abschüttelt. Das ist ein hilfreicher Mechanismus, ein wichtiger Selbsterhaltungsreflex.
Und was hat das mit dem Rücken zu tun?
80 bis 90 Prozent der unspezifischen Rückenschmerzen, bei denen Ärzte keine erklärlichen Ursachen finden, haben psychosomatische Ursachen, meist geht es um irgendeine Form von Stress. Bei Stress – ganz egal, wodurch er entsteht – läuft in jedem Körper ein universelles Muster ab: angreifen oder fliehen. In dem Stressmoment wird im Körper Energie freigesetzt, das Herz schlägt schneller, der Puls geht hoch, es werden Enzyme und Hormone ausgeschüttet, damit ich sofort wegrennen oder angreifen kann. Doch wir bleiben heute bei Stress am Schreibtisch sitzen und rennen auch selten aus dem Zimmer, wenn wir Streit mit unserem Partner haben. Die Energie verschwindet nicht und löst sich auch nicht von selbst auf. Sie bleibt im Körper gespeichert, vor allem im unteren Rücken. Das ist die Körperregion, in der gestresste Menschen häufig Schmerzen haben.
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Ulrike Balke-Holzberger, geboren 1968, ist examinierte Kinderkrankenschwester. Sie arbeitet als systemische Familientherapeutin und Coach in Hannover, ist zudem als Organisationsberaterin im betrieblichen Gesundheitsmanagement tätig. Im Verlag Klett-Cotta ist ihr Buch „Gesunder Rücken durch Zittern“ (219 Seiten, 20 Euro) erschienen.
© Quelle: Ulrike Balke-Holzberger
Wie entsteht der Schmerz genau?
In unseren Faszien, also im Bindegewebe, gibt es eine spezielle Zellart, die in diesem Moment die Bewegungsenergie speichert. Wenn ich nicht weglaufe, mich nicht bewege, lagert sich die Bewegungsenergie an. Dadurch wird das Bindegewebe, vereinfacht ausgedrückt, immer dicker, zäher und unbeweglicher. Es verklebt und verfilzt. Bleibt diese Stressenergie zu lange im Körper, drückt sie auf Nerven – und das führt zu Schmerz, vor allem zu Rückenschmerz.
Gerade in der aktuellen Pandemiezeit klagen immer mehr Menschen über Rückenprobleme.
Die haben stark zugenommen. Zum einen durch den psychischen Stress – Angst um den Job, Angst vor einer Erkrankung. Aber auch durch die konkrete Arbeitssituation. Homeoffice bedeutet für viele Menschen: Sie sitzen jetzt im Holzstuhl am Küchentisch. Die Mischung aus Stress, Fehlhaltung und Bewegungsmangel verursacht Rückenschmerzen – und das in Windeseile.
Und die sollen wir wegzittern?
Ja, aber das Zittern ist nur eine Säule der Rückenarbeit. Es geht mir um drei Schritte: Erst wird der Rücken durch einfache Gymnastik wie Schulterkreisen und Dehnübungen aufgewärmt und gelockert. So baut man eine sanfte Körperspannung auf. Dann kann jeder und jede den Körper zum Zittern bringen – im Stehen oder im Liegen. Abschließend werden die neuen Körperempfindungen durch Achtsamkeitsübungen in unserem Bewusstsein integriert.
Wie läuft das Zittern denn konkret ab?
Das kann jeder zu Hause machen. Man braucht bequeme Kleidung, ausreichend Platz an der Wand oder am Boden. Ich kann mich mit dem Rücken gegen eine Wand lehnen und die Füße immer weiter wegbewegen, sodass ich irgendwann eine Sitzposition einnehme. Dann fängt der Körper meist von selbst an zu vibrieren oder sich zu schütteln. Oder ich kann es mir am Boden gemütlich machen, die Beine und Füße in Froschposition bringen. Auch dann fängt der Körper meist nach einer Weile an zu zittern. Auf jeden Fall gilt: Man kann überhaupt nichts falsch machen, es ist immer alles richtig.
Das bringt das Bindegewebe in Bewegung?
Ja, die Stressenergie in den Faszien wird durch das Zittern gelöst; das Bindegewebe wird wieder geschmeidiger. Und wenn die Beweglichkeit zunimmt, reduzieren sich die Schmerzen.
Und wenn man auf dem Boden liegt und der Rücken sich partout nicht bewegt?
Dann probiert man einfach aus, sucht sich zum Beispiel eine andere Liege- oder Beinposition oder versucht, im Stehen zu zittern. Das ist bei jedem unterschiedlich stark ausgeprägt: Manche Menschen schütteln sich richtig, bei anderen ist von außen kaum Bewegung zu sehen, die empfinden eher ein feines Kribbeln im Rücken.
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Gesunder Rücken durch Zittern
© Quelle: Klett-Cotta
Darf denn jeder zittern?
Grundsätzlich kann das jeder, auch Kinder. Aber wer eine frische Verletzung oder eine schwere Grunderkrankung hat, sollte vorher mit seinem Arzt sprechen.
Und was ist mit der dritten Säule, von der Sie sprachen?
Damit meine ich Übungen, die die Körperachtsamkeit stärken. Viele kennen das unter dem Stichwort MBSR, das meint achtsamkeitsbasierte Stressbewältigung. Es geht darum, die Aufmerksamkeit bewusst auf das Körperempfinden zu richten, etwa darauf, wie sich mein Rückenschmerz anfühlt und wie der Rücken sich anfühlt, nachdem er gezittert hat. Man kann den Körper auch einmal gedanklich von unten nach oben durchscannen. Wenn wir die Aufmerksamkeit bewusst lenken, erreichen wir eine größere innere Ruhe. Wir legen Stress ab.
Was soll am Zittern denn besser sein als beim Yoga oder bei der Rückengymnastik?
Das ist nicht besser, nur anders und einfacher. Es unterscheidet sich allerdings in zwei wesentlichen Punkten: Erstens muss ich mich beim Zittern nicht anstrengen. Durch das Lösen der gespeicherten Energie entsteht Bewegung, ich werde passiv bewegt. Zahlreiche Menschen empfinden das erst als befremdlich und dann als entlastend und wohltuend, weil sie schon so viel gegen Rückenschmerzen ausprobiert haben. Und zweitens werden dabei tiefere Schichten der rund 20 Kilogramm Faszien, die jeder im Körper hat, erreicht, die ich sonst nicht aktiv mobilisieren und lockern kann.
Seit einigen Jahren sind Faszien ein großes Thema: Es gibt Unmengen an Ratgebern und Workouts, mit oder ohne Faszienrolle. Ist das tatsächlich mehr als nur ein Hype?
Vor 15, 20 Jahren war das kein Thema, weil es kaum Erkenntnisse dazu gab. Mittlerweile sind die Faszien zum Gegenstand der Medizinforschung geworden. Diese Grundlagenforschung hat unser Verständnis der Faszien geändert und erweitert – in der Sporttherapie, in der Physiotherapie und bei Übungen gegen Rückenschmerzen.
Zur Person: Ulrike Balke-Holzberger, geboren 1968, ist examinierte Kinderkrankenschwester. Sie arbeitet als systemische Familientherapeutin und Coach in Hannover, ist zudem als Organisationsberaterin im betrieblichen Gesundheitsmanagement tätig. Im Verlag Klett-Cotta ist ihr Buch „Gesunder Rücken durch Zittern“ (219 Seiten, 20 Euro) erschienen.