Wenn ein Virus den gewohnten Alltag infiziert: Wie Blinde die Corona-Krise erleben
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Blinde und sehbehinderte Menschen sind in der Corona-Krise vielfach auf die Hilfe anderer angewiesen.
© Quelle: Oleg Elkov/iStockphoto
Seit mehr als einem Jahr steht der Alltag wegen der Pandemie und den damit verbundenen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus Kopf. Im Supermarkt markieren Aufkleber auf dem Boden den Mindestabstand, mit Aushängen an Fensterscheiben erinnern Handel und Gastronomie an die geltenden Corona-Regeln und vielerorts machen Schilder in den Städten auf eine Maskenpflicht aufmerksam.
An den schätzungsweise 1,2 Millionen blinden und sehbehinderten Menschen in Deutschland gehen diese Hinweise vorbei. Stattdessen nehmen sie ihnen oftmals die Orientierung und ein Stück Selbstständigkeit. „Wir sind nicht behindert, wir werden behindert“, sagt Gerd Schwesig vom Blinden- und Sehbehindertenverband (BVN) in Niedersachsen. Auch er hat kein Augenlicht.
Seit 20 Jahren arbeitet der 49-jährige Diplomsozialarbeiter und -pädagoge nun in der Beratungsstelle des Verbands. Ihm berichten Betroffene immer wieder von Problemen im Zusammenhang mit den Schutzmaßnahmen. Für ein allgemeines Stimmungsbild hat der BVN bereits zu Beginn der Pandemie, im Jahr 2020, eine Umfrage zu den damals neuen Herausforderungen gemacht. Die meisten angesprochenen Probleme bestehen noch heute.
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Die Pandemie und wir
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Corona-Maßnahmen erschweren Blinden und Sehbehinderten den Alltag
Hierzu zählen etwa die Markierungen am Boden in Geschäften. „Sie sind – im Gegensatz zu spürbaren Blindenleitstreifen, etwa an Hochbahnsteigen – noch immer nicht für uns wahrnehmbar“, sagt Schwesig. In den Corona-Schlangen mit vorgegebenen Mindestabständen zwischen den Wartenden stellt das ein Problem dar. Das erfuhr der Sozialarbeiter und -pädagoge am eigenen Leib. „Ich bin einer Dame am Ende der Schlange zu nah getreten, die fing an, mich anzuschreien“, berichtet der 49-Jährige. „Ich habe kopfschüttelnd auf meinen weißen Stock gedeutet, die hat sich gar nicht beruhigt.“ Schließlich habe ein Mann eingegriffen und ihm geholfen, seinen Einkauf zu beenden.
Dazu kommen die Plexiglasscheiben an Verkaufsständen und Kassen. „Sehbehinderte Menschen stoßen sich daran zum Teil die Köpfe und verbringen viel Zeit damit, die „Durchreiche“ zu suchen“, heißt es hierzu in der BVN-Mitteilung zur Umfrage. „Was spricht dagegen, die Ränder der Scheiben mit kontrastreichem Klebeband zu markieren?“ Und wer sich im Handel umsieht, stellt fest: Diese Frage tut sich im zweiten Pandemiejahr noch immer auf.
Und auch die Schilder, die auf die Hygieneregeln aufmerksam machen, helfen ausschließlich Sehenden. Unabhängig davon, dass sie Menschen mit einer Beeinträchtigung des Augenlichts nicht informieren – sie sind auch häufig im Weg, beispielsweise bei der Nutzung eines Langstocks. „Da fragt man sich: Sind die Sehenden so blind, dass sie einen Aufsteller brauchen, der zwei mal zwei Meter groß ist?“, kommentiert Schwesig.
Ebenso erschweren neue Verhaltensregeln den Gang in den Supermarkt. Die Maskenpflicht trägt dazu bei, dass sich die Verständlichkeit reduziert. Ein Ausgleich durch sprachbegleitende Gesten? Nicht möglich. Dazu kommt vielerorts eine Einkaufswagenpflicht. Sie ist schlecht mit der Nutzung eines Blindenstocks vereinbar.
Wenn die Pandemie einem die Selbstständigkeit nimmt
In Zeiten der Pandemie heißt es: Ein Stück Kontrolle abgeben. Betroffene sind vielfach auf Anweisungen angewiesen, wo sie vorher keine gebraucht haben. Zum Beispiel beim Busfahren: Da der vordere Bereich angesichts der Hygienemaßnahmen abgesperrt ist, fehlt sehbehinderten und blinden Menschen die Möglichkeit, dort einzusteigen – und damit auch die Chance, Fragen zu stellen. Vielfach bleibt nur, sich bei der Suche nach der richtigen Linie, der Bustür oder dem Sitzplatz auf andere zu verlassen. In der BVN-Umfrage gab ein Großteil der Befragten an, gar nicht genug von Hinweisen wie „Ich sag Ihnen gern Bescheid, wenn Sie dran sind“ bekommen zu können.
Ähnliche Szenen beim Bahn- oder Zugfahren. Tummeln sich zu Stoßzeiten – wenn auch derzeit in abgeschwächter Form – die Menschen am Bahnsteig, sind Blinde und Sehbehinderte auf die Vernunft anderer angewiesen. Schließlich ist Abstandhalten angesagt. „Ich versuche immer, eine Lücke zu finden“, sagt Martina Nesterok. „Manchmal ermahne ich die Leute aber auch und sage ‚Mach mal ein bisschen Platz hier‘.“ Sie ist 61 Jahre alt und vollständig blind. Dennoch fährt sie regelmäßig alleine mit dem Zug. In Zeiten der Pandemie fehlen ihr dabei die Gespräche. „Wenn ich morgens um sechs Uhr fahre, weiß ich manchmal nicht: Sind auch andere Menschen im Abteil? Das ist komisch.“
Blinde und sehbehinderte Menschen in der Corona-Krise oft einsam
Aus Angst vor Situationen wie diesen oder einer Ansteckung mit dem Coronavirus seien viele sehbehinderte und blinde Menschen vor allem zu Beginn der Krise zu Hause geblieben, berichtet Schwesig. Auch Nesterok war zwei Monate zu Hause, hat Überstunden abgebummelt und Urlaub genommen, weil sie technisch nicht in der Lage zu Homeoffice war.
Doch mit zunehmender Isolation steigt die Einsamkeit, vor allem bei denjenigen, die allein wohnen. „Ich vermisse die Kollegen und Freunde, und den Austausch“, sagt der 42-jährige Sebastian Poerschke, der vollständig blind ist und im Rollstuhl sitzt. Trotzdem bleibt er der Arbeit seit einem Jahr fern. „Man weiß ja nie, wo die Menschen vorher waren, und ob sie das Virus vielleicht in sich tragen, ohne es zu wissen.“
Bei Daniela Wacker, die wie Poerschke bei den Hannoverschen Werkstätten (HW) arbeitet, gilt angesichts der Pandemie ein Wechselmodell: Eine Gruppe arbeitet in der geraden Kalenderwoche, die andere in der ungeraden. Obwohl die Stimmung grundsätzlich gut sei, vermisst auch die 31-Jährige ihre Kolleginnen und Kollegen: „Natürlich ist es blöd, dass man sich nicht mehr trifft.“
Laut einer Studie des Deutschen Zentrums für Altersfragen (DZA) fühlte sich rund jeder siebte Deutsche während des ersten Lockdowns 2020 einsam. Um die Verbandsmitglieder in dieser Zeit zu unterstützen, führte der BVN Telefonketten ein. „Wo es möglich war, haben wir die Menschen auch auf der Terrasse oder am offenen Fenster besucht“, sagt Schwesig.
„Für mich ist Videotelefonie nur Telefonieren“
Allein war Nesterok nicht. Den ersten Lockdown hat sie trotzdem zu Hause verbracht, mit ihrem Lebensgefährten. Allerdings ließen es die Kontaktbeschränkungen teilweise nicht zu, ihre beiden Enkelkinder im Alter von drei und sechs Jahren zu treffen. „Das war hart“, erinnert sich die 61-Jährige. „Mein Mann hatte immer noch die Möglichkeit, sie via Videotelefonie zu sehen. Für mich ist das aber nur Telefonieren.“ Den persönlichen Kontakt ersetzt das nicht – das sieht auch Wacker, die noch etwa 30 Prozent ihrer Sehkraft hat, so: „Auch Mails und Nachrichten bei Whatsapp sind zwar schön. aber nicht dasselbe wie ein Treffen.“
Blinde und Sehbehinderte brauchen eine Struktur im Alltag
Insgesamt herrscht unter blinden und sehbehinderten Menschen ein großes Verständnis dafür, dass die Pandemie Einschränkungen erfordert. Viele sind bereit, auch monatelang nicht vor die Tür zu gehen, wenn es denn nötig ist. Doch was sie brauchen ist Konstanz, in einem Alltag, der darauf ausgerichtet ist, strukturiert zu funktionieren. „Es wäre eine gute Unterstützung, wenn es ein Konzept gäbe, bei dem es nicht erst Hü und dann Hott heißt“, betont Poerschke. Häufige Änderungen bei Geschäftsöffnungen, Kontaktbeschränkungen und Verhaltensregeln machen es ihm und anderen sehbehinderten Menschen noch schwerer, sich daran zu halten. „Dieses ständige Hoch und Runter stört mich“, bestätigt auch Daniela Wacker.
Ein Baustein, um auch blinden und sehbehinderten Menschen wieder Freizeitaktivitäten mit einem sicheren Gefühl zu ermöglichen, wäre die Luca-App. Derzeit ist die Anwendung für viele Sehbehinderte allerdings noch nicht nutzbar: Laut dem Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund (BBSB) können blinde Apple-Nutzer die Datenschutzvereinbarung bislang nicht annehmen, da sie nicht mit der Vorlesefunktion verknüpft ist. Auch bei Android-Geräten gebe es Probleme. Die Entwickler versprechen, dass sie in puncto Barrierefreiheit noch nachbessern wollen. Mehrere Bundesländer planen die Einführung der Anwendung zur besseren Kontaktnachverfolgung – bislang wären Sehbehinderte ohne Hilfe von jemand anderem ausgeschlossen.
Bei vielen Bemühungen geht es darum, das Gefühl von Sicherheit wieder zu bekommen. Familie und Freunde wiedersehen zu können, ohne Angst vor einer Infektion haben zu müssen. Wie schnell es – trotz aller Vorsicht – zu einer Infektion kommen kann, hat Martina Nesterok selbst erleben müssen: Im Januar 2021 erhielt sie vom Gesundheitsamt die Diagnose „Covid-19“. Sie litt unter Fieber, Husten und Appetitlosigkeit. „Ich hab nach einer halben Scheibe Brot gesagt, ich hab keinen Hunger mehr. Da hat mein Lebensgefährte gesagt: ‚Dann biste wirklich krank‘.“ Es sind zwei Dinge, die die 61-Jährige nicht aufgeben lassen. Und die möchte sie auch weitergeben: „Wenn wir unseren Humor und die Hoffnung nicht verlieren, kommen wir da durch.“