Cannes, das Kino und der Krieg
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Eine Demonstrantin, die eine Körperbemalung mit der Aufschrift „Stop Raping Us“ (Hört auf, uns zu vergewaltigen) in den Farben der ukrainischen Flagge trägt, bei der Premiere des Films „Dreitausend Jahre Sehnsucht“ auf dem Filmfestival in Cannes.
© Quelle: Petros Giannakouris/AP/dpa
Cannes. Als die Kampfjets über das Festivalpalais donnerten, stand Hanna Bilobrova gerade auf einem Balkon. Instinktiv wollte sie sich zu Boden werfen. Niemand hatte der Ukrainerin gesagt, dass die französische Luftwaffe zu Ehren des Tom-Cruise-Films „Top Gun: Maverick“ mal eben eine Runde über Cannes drehen würde. „Es fielen keine Bomben, aber ich musste weinen“, sagt Bilobrova.
Flugzeuge über ihrem Kopf hatten in den vergangenen Monaten nur eines bedeutet: Tod und Zerstörung. Ihr Lebensgefährte, der litauische Filmregisseur Mantas Kvedaravicius, starb Ende März in Mariupol. Nach Bilobrovas Angaben aber nicht durch eine russische Rakete: „Die Russen haben ihn kaltblütig ermordet“, sagt sie. Gewissermaßen in seinem Auftrag ist sie zum Festival gereist – mit dem letzten gemeinsamen Film im Gepäck.
Risse in der Glamourblase
Krieg und Kino: In Cannes dürfte beides auch bei der Preisverleihung am Samstag noch einmal unversöhnlich aufeinandertreffen. Kein Tag ist bei diesem Festival vergangen, ohne dass sich in der Glanz- und Glamourblase am Mittelmeer Risse aufgetan hätten. In die Megashow, gewöhnlich zwei Wochen lang ein abgeschottetes Paralleluniversum, sickerte unbarmherzig die brutale Wirklichkeit ein.
Mal protestierte eine fast nackte Aktivistin, bemalt mit der ukrainischen Flagge, auf dem roten Teppich gegen die Vergewaltigung ukrainischer Frauen durch russische Soldaten. Mal enthüllte ein ukrainischer Regisseur an selber Stelle zu bedrohlichen Sirenentönen ein Plakat, auf dem in englischer Sprache stand: „Russen töten Ukrainer. Finden Sie es anstößig oder verstörend, über diesen Genozid zu reden?“
Die traumatische Geschichte der Ukrainerin Hanna Bilobrova steht beispielhaft für diesen harten Gegensatz. Die 29‑Jährige erzählt von ihrem Weg nach Cannes mit Blick auf das azurblaue Meer, den alten Jachthafen und die pittoreske Altstadt von Cannes. Sie trägt eine schwarze Lederjacke, die Schultern hochgezogen, als fröre sie trotz hochsommerlicher Temperaturen.
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Die ukrainische Filmemacherin Hanna Bilobrova.
© Quelle: Getty Images
„Einen Tag nach meinem Geburtstag am 3. März sind Mantas und ich losgefahren nach Mariupol.“ Die Nachrichten von ihren Freunden und Verwandten in Schutzkellern hätten sie nicht mehr losgelassen. „Wir wollten nicht einfach zuschauen bei dieser Belagerung. Als Filmemacher wollten wir helfen.“ Sie selbst stammt aus der Region Luhansk.
Kvedaravicius hatte schon 2014 einen ersten „Mariupol“-Film über den Ostukraine-Konflikt gedreht. Nun wollte das Paar das Überleben in der belagerten Stadt festhalten, die sich inzwischen den russischen Angreifern hat ergeben müssen.
Meistens waren die beiden zusammen in der Hafenstadt im Südosten der Ukraine unterwegs. An jenem Tag Ende März aber war der 45‑jährige Kvedaravicius nach Worten seiner Partnerin allein und ohne Kamera aufgebrochen. Er kehrte nicht zurück.
Tagelang suchte Bilobrova nach ihm. Dann habe ein Soldat der Separatisten sie zu seinem Leichnam geführt. Demnach lag Kvedaravicius auf der Straße, den Kopf nach unten. Er starb an einem Bauchschuss, aber nicht auf dieser Straße. Denn dort sei kein Blut gewesen, so Bilobrova.
„Männer aus Mariupolis haben mir schließlich geholfen, die Leiche zu bergen.“ Einer von ihnen hatte bereits begonnen, ein Grab für Kvedaravicius auszuheben. „Für diese Menschen war Mantas zu einem von ihnen geworden.“
Dann jedoch entschied sie sich, die Leiche zusammen mit dem Filmmaterial aus der belagerten Stadt nach Litauen zu bringen. „Vier Tage war ich mit Mantas im Mietwagen unterwegs, bis ich endlich die litauische Grenze erreichte“, sagt Bilobrova.
Wie genau man sich diese Reise vorstellen muss, wagt man sie nicht zu fragen.
Festgefrorene Absurdität
In aller Eile fertigte Bilobrava eine Rohfassung des Films an. Er heißt „Mariupolis II“ und fand in letzter Minute den Weg ins Festivalprogramm. Zu sehen ist die ganze Absurdität eines Krieges: In langen, wie festgefrorenen Einstellungen lässt sich der Alltag der Menschen in der belagerten Stadt beobachten, ganz ohne Kommentar und Musik.
Die Sonne scheint, Raketen zischen über den strahlend blauen Himmel. Männer bergen ein kaputtes Stromaggregat, daneben liegen zwei Leichen im Sand. Ein Hund stibitzt ein Stück Butter, es wird über den Atomkrieg gewitzelt. Die unablässigen Detonationen der Bomben bilden den Soundtrack des Films.
Diese Bilder sind anders als die üblichen Nachrichtenschnipsel, die wir aus dem Fernsehen kennen. Sie stellen eine Nähe her zu den Menschen, die in Mariupol trotz allem jeden Tag weitermachen. „Mariupolis“ ist ein erschütterndes Dokument vom Überleben unter unmenschlichen Bedingungen.
Und wie hat Bilobrova es ausgehalten, diesen Film zu beenden? „Das ist die Magie des Kinos: Wenn ich mich mit dem Film beschäftige, bin ich wieder mit Mantas zusammen. Dies ist sein Vermächtnis“, sagt Bilobrova.
Genau so hätte es Mantas Kvedaravicius gewollt: Das immer noch wichtigste Filmfestival weltweit dient als Plattform: Zuschauerinnen und Zuschauer überall erfahren in diesem eindringlichen Film vom Leid in Mariupol.
„Wir brauchen einen neuen Chaplin“
Schon bei der Eröffnung hatte ein Überraschungsgast auf die Verantwortung des Kinos in Kriegszeiten verwiesen: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ließ sich per Video zuschalten. „Wir brauchen einen neuen Chaplin, der zeigt, dass das Kino unserer Zeit nicht schweigt“, sagte Selenskyj mit Blick auf Chaplins Adolf-Hitler-Satire „Der große Diktator“ von 1940. „Heute schweigt das Kino nicht.“
Die Festivalgemeinde applaudierte begeistert. Minuten später widmete sie sich dem Eröffnungsfilm, einer nur halbwegs lustigen Zombiekomödie. Ein Zeichen, wie schwer es ist, durchzudringen?
Der ukrainische Regisseur Dmytro Sukholytkyy-Sobchuk sagte, er fühle sich „wie ein Alien“. In der Ukraine sterben täglich Menschen im Krieg. In Cannes wird jede Nacht am Strand gefeiert. Bis zum Festivalende hat die Festivalleitung nach einer verbindlichen Haltung zum Krieg gesucht. Etwas hilflos wurden Ansteckplaketten mit Aufschriften wie „Stop The War“ oder „I Stand With Ukraine“ verteilt.
Wie sollte man etwa mit russischen Filmemachern umgehen? Einer war in Cannes und ließ sich nach seiner Galavorstellung vom Festivalchef persönlich ein Mikrofon reichen: „Nein zum Krieg“, rief Kirill Serebrennikow in den voll besetzten Saal. Niemand hätte im Moment des Premierenglücks ein politisches Statement von ihm erwartet. Oder etwa doch?
Ich fühle mich nicht wirklich wohl als einziger russischer Filmemacher in Cannes.
Kirill Serebrennikow, Regisseur aus Russland
Vermutlich weiß Serebrennikow selbst nicht mehr, wie oft er sich schon gegen den Überfall seines Landes auf die Ukraine ausgesprochen hat. Doch wo auch immer der 52‑Jährige auftaucht, muss er sich erklären. „So herzlich die Aufnahme meines Films hier in Cannes auch ist, ich fühle mich nicht wirklich wohl als einziger russischer Filmemacher“, sagt er mit müder Stimme.
Ukrainische Filmemacher hatten gefordert, ihn auszuschließen. Agnieszka Holland, Präsidentin der Europäischen Filmakademie, unterstützte diese Haltung: „Wenn es nach mir ginge, würde ich russische Filme nicht in das offizielle Programm des Festivals aufnehmen“, sagte sie in Cannes. „Ich denke, es ist einfach nicht der richtige Zeitpunkt, Filme zu feiern, die mit russischem Geld entstanden sind.“ In Serebrennikows Film „Tschaikowskys Frau“ steckt Geld des Oligarchen Roman Abramowitsch, der auf europäischen Sanktionslisten steht.
Offizielle russische Delegierte hatte die Festivalleitung ausgeladen, aber an dem regimekritischen Serebrennikow hielt sie fest. In seiner Heimat stand er viele Monate unter Hausarrest. Er musste sich unhaltbarer Vorwürfe erwehren, Theatergeld veruntreut zu haben. Anfang des Jahres ließen ihn die russischen Behörden überraschend ziehen. Nun lebt Serebrennikow in Berlin und inszeniert in halb Europa – in Amsterdam die Oper „Der Freischütz“, beim Theaterfestival in Avignon „Der schwarze Mönch“, in Paris Wagners „Lohengrin“.
„Mobilisieren Sie die Welt!“
Und die Stars, ob sie die Aufmerksamkeit auf dem roten Teppich in diesem Jahr wirklich uneingeschränkt genossen haben? In Cannes erreichte sie ein offener Brief aus Kiew: „Sie sind Berühmtheiten. Wenn Sie sich für Freiheit und gegen Tyrannei aussprechen, finden Ihre Stimmen ein Echo wie keine anderen“, schrieb Andriy Yermak, Leiter des Präsidialamts der Ukraine und Filmproduzent. „Wenn Sie der Öffentlichkeit vom Terror berichten, der der Ukraine widerfährt, mobilisieren Sie die Welt, dagegen vorzugehen.“ Yermak forderte die Celebrities auf, alles dafür zu tun, damit die Welt nicht das Interesse am Schicksal der Ukraine verliert.
Prominenz mit politischem Auftrag: Beim täglichen Schaulaufen der Abgesandten von Mode- und Kosmetikkonzernen auf dem roten Teppich wirkte dieser Anspruch mitunter grotesk. Allerdings: Mancher Star hat sich in den vergangenen Monaten tatsächlich in dem geschundenen Land blicken lassen: Angelina Jolie besuchte Flüchtlingskinder in Lwiw. Sean Penn drehte bei Ausbruch des Krieges gerade einen Dokumentarfilm über die Ukraine. Er musste sich viel Spott gefallen lassen, als er bald darauf mit einem Rollkoffer und zu Fuß Richtung polnischer Grenze gesichtet wurde.
Inzwischen ist seine Dokumentation fertig. Sie stand auf dem Filmmarkt in Cannes zum Kauf. Auf dem roten Teppich wurde Sean Penn nicht gesehen.
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