Der Mann, der das Millennium swingen lässt
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Piekfein in Frack und Fliege: Max Raabe bei der 28. Jos-Carreras-Gala in Leipzig, die am Mittwoch (7. Dezember) stattfand. Der Sänger wird am heutigen Montag (12. Dezember) 60 Jahre alt.
© Quelle: IMAGO/Future Image
Max Raabe ist kein Interviewpartner wie andere im Popbiz. Streifen seine Kolleginnen und Kollegen in Gesprächssituationen für gewöhnlich so viel Image wie möglich ab und geben sich eher leger, so trifft man Raabe, der nun 60 Jahre alt geworden ist, stets so geschniegelt und gestriegelt an, als hebe sich gleich ein Vorhang für ihn. Wobei sich auch das in der Popbranche bei Raabe-Interviews eigentlich kategorische „Du!“ als Anrede gleich mal einen freien Abend nehmen kann.
Es sind „Herr Raabe …“-Gespräche, und irgendwie trägt einen der 1962 in Lünen Geborene auch mit seiner distanzierten Förmlichkeit zurück in die Zeiten, als – um den ähnlich vornehmen Loriot zu zitieren - mehr Lametta war. Mit Raabe im Sessel bekamen selbst mittelprächtig noble Hotelfoyers, in denen man sein Aufnahmegerät anknipste, plötzlich Adlon-Flair. Es geht dann im Talk um Musik und nochmal um Musik und – bitte – niemals um Privates. Mit wem der als Matthias Otto geborene Westfale beispielsweise zusammen ist, bleibt Geheimnis, der Mann hält seine Partnerin aus dem Scheinwerferlicht, beschweigt sein Leben jenseits der Kunst kategorisch.
Raabe holte den „kleinen grüßen Kaktus“ wieder auf die Balkone Deutschlands
Letztere freilich ist großartig: Raabe war der Mann, der in den Achtzigerjahren den „Kleinen grünen Kaktus“ wieder auf den Balkon der Republik stellte, der wieder Lieder wie „Donna Clara“, „Bel Ami“ und „Ich lass’ mir meinen Körper schwarz bepinseln“ abstaubte und Will Meisels tanzender „Lu-Lu“ zu neuen Ehren verhalf. „Der Spargel wächst“, hatte Uropi seiner Liebsten in „Veronika, der Lenz ist da“ singenderweise mitgeteilt, damals als er Jüngling war, und die eigene Erektion ins Botanische verlagert. Raabe bringt solche Frivolitäten ungerührt, ohne jedes Augenzwinkern. Gerade das bereitet seinem Publikum höchstes Vergnügen.
Auch eigene Lieder schrieb Raabe – schon 1993 hatte er einen Liederfolg aus eigener Feder, den fortan landauf, landab alle die trällerten, die auf die humorvolle Art ein Kontaktdefizit zu ihren Nächsten bemängeln wollten: „Kein Schwein ruft mich an, keine Sau interessiert sich für mich …“ Ein Hit, der klingt wie ein reinrassiges Schellack-Souvenir, so echt anmutend, dass er im Internet heute schon mal den Comedian Harmonists untergeschoben wird, den zur Hälfte jüdischen Schlagerkönigen der späten Weimarer Republik, die von den Nazis ebenso auseinandergerissen wurden wie die ganze freche Popmusik des wilden Berlin.
Erster Swing-Auftritt: mit „Fräulein Helen“ bei den Pfadfindern
Der Drang des Chorknaben Max zu dieser Musik begann früh. „Ich war bei den Pfadfindern“, erinnerte sich Raabe bei einem Treff im Hannoverschen Luisenhof. Und bei den Jugendfreizeiten wurde ja auch immer gewünscht, dass was vorgetragen wird, Sketche und Musik. Ich bin dann mit einem Freund am Klavier gestanden (…) er ist natürlich gesessen (…) und ich hab’ gesungen: ‚Ich hab’ das Fräulein Helen baden sehen (…)‘“
Das war’s. Geburtsstunde eines Retrosounds, aus dem dann 1986 das glamouröse Palastorchester entstand. Ab 1988 studierte der damalige Mittzwanziger Gesang in Berlin. 1995 war er dann staatlich geprüfter Opernsänger.
Jeder Umlaut wird blasiert, jeder Diphthong gestreckt
Seine Performance ist eine Köstlichkeit – wenn Raabe in automatenhafter Gleichmut seine Ankündigungen macht, Daten, Komponisten, Anekdoten deklamiert und alsdann straight durch die Polypen zu singen scheint. Jede Silbe erhält ihr Recht, jeder Umlaut wird blasiert, jeder Diphthong gestreckt, jedes „r“ ist ein nürnbergscher Roller. Gestelzt ist der Satzbau, gespitzt der Mund über der Smokingfliege, das Kinngrübchen wirft Schatten, aus Schlafzimmeraugen schlüpft ein somnambuler Blick.
Nachdem das Lied „verklungen“ ist, macht Raabe seine schmalen Diener, lässt sein Sechzehntellächeln sehen. Mit dem Sänger und seinem Großensemble herrscht millenniumsüberschreitend wieder der gute alte humorvolle König Swing unter den Konzertkuppeln der Welt.
Raabe und sein Orchester wurden auch in der Carnegie Hall gefeiert
Denn Raabe wird schon seit beinahe zwei Jahrzehnten auch in Stockholm, Turin und Paris goutiert. Und in der Carnegie Hall – wo das New Yorker Publikum ihn 2005 erstmals mit stehenden Ovationen bedachte, nachdem auch englischsprachige Evergreens wie „Singin’ in the Rain“ oder „Night and Day“ präsentiert wurden. Nachzuhören auf dem Doppelalbum „Heute Nacht oder nie – Live in New York“ (2008).
Wie das klingt? Magisch. Das Bass-Saxofon pupst schwer und dunkel, der Trommler hält sein Becken fest, was blechernen Schlagwerkslapstick ergibt, das Marimbafon gluckst beschwipst, die Gitarre setzt ihr schönstes Schimmern ein, die Violine spendiert einen Hauch Zigan. Breit tönt die Posaune, wonnig kommen die Saxofone, spitz die Trompeten, gern sind letztere gestopft-quakende Blechfrösche.
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Schwerpunkt ist der Schlagerschatz der Weimarer Republik
Schwerpunkt im Raabe-Repertoire war dabei stets die Goldene Ära des deutschen Schlagers der Weimarer Republik. „Da liegen meine Favoriten, das ist der Humor, den ich besonders schätze. Sehr schlagfertig und sarkastisch“, erklärte der Sänger 2011 im Gespräch. Aber auch Hits der NS-Zeit finden sich – etwa „Ich wollt’ ich wär ein Huhn“ von 1936.
Raabe nahm die Autoren im Interview durchaus in Schutz „All diese Leute haben einfach gearbeitet, wollten mit dem Regime nichts zu tun haben. Das waren Musiker.“ Er kenne keine Schlager, in denen eindeutig Sympathie für das NS-Regime geäußert wird.
Mit Annette Humpe begann sich der Sound auf den Platten zu verändern
Seit etwas mehr als einer Dekade widmet sich Raabe verstärkt eigenen Songs, das mit Annette Humpe (Ideal, Ich + Ich) geschaffene Album „Küssen kann man nicht alleine“ markierte einen Wendepunkt. Die Studioversionen hatten jetzt moderne Soundkomponenten, es wurden erstmals Computersamples benutzt. Später wurden die Lieder für Tourneen wieder ins Klangbild des Orchesters überführt. Das Ergebnis klingt, als wäre es bis ins 21. Jahrhundert weitergegangen mit der Ironie und dem Vibe des Weimar-Pop, als hätte es den Kulturbruch der Nazis nie gegeben.
Seither platzieren sich Raabes Alben auch in den obersten Chartsregionen. „Wer hat hier schlechte Laune“ heißt das neue Liederbuch, das erst vor zwei Monaten erschien und in Deutschland bis auf Platz drei stieg. Max Raabe überquert darauf mit einem Zebra einen Zebrastreifen, und singt vom Wunsch, „Hummeln“ zu streicheln. Das furchtbare Jahr 2022 lässt sich mit diesem Werk wegpusten, mithilfe von Peter „Rosenstolz“ Plate oder – wieder – Annette Humpe sind Raabe zeitlose neue Songs geglückt.
„Ein Tag wie Gold“ ist darunter – passenderweise das Lied, mit dem er in der vierten Staffel von „Babylon Berlin“ auftritt, aber es finden sich auch elektronische Songs mit Kraftwerk-Bezug wie „Strom“. „Hin und zurück, durch die Republik / wenn der Akku hält, einmal um die Welt“, singt Raabe da ganz tagesaktuell. „Und läuft es nicht, wie ich hoff’ / probier ich Wasserstoff.“
Und zum Schluss doch noch etwas Privates: Nicht einmal eine Topfplanze besitze er, sagte Raabe einmal in einem Interview - darauf befragt, ob der Hund auf dem Cover des „Küssen“-Albums sein eigener sei. Die Frage erübrigt sich also, ob das Zebra des „Laune“-Albums ihm gehöre. Das Tourleben vertrage sich nicht mit Lebewesen in der Wohnung, war Raabes Ansicht damals. Sofern der Corona-Kulturstopp an dieser Haltung nichts geändert hat, steht der kleine grüne Kaktus anderswo.
Aktuelles Album: Max Raabe - „Wer hat hier schlechte Laune“ (We Love Music). Bis zum 18. Dezember ist Max Raabe noch mit dem Palastorchester auf Tour, im März geht es mit Live-Terminen des Orchester weiter. Im April stehen dann Solokonzerte Raabes an.