Aus den Popfabriken

Neue Alben: Melancholie von Rammstein, Behagliches von Willie Nelson

Betrachtungen über die Endlichkeit: Am 29. April erscheint das Album „Zeit“ der Berliner Deutsche-Härte-Band Rammstein um Sänger Till Lindemann (zweiter von rechts).

Betrachtungen über die Endlichkeit: Am 29. April erscheint das Album „Zeit“ der Berliner Deutsche-Härte-Band Rammstein um Sänger Till Lindemann (zweiter von rechts).

Da hat man für sich beim letzten Mal das „Album des Jahres (bisher) 2022″ gekürt. Und dann will man dieses traumhafte Doppelalbum voller durchaus auch radiokompatibler Adult-Pop-Juwelen – keine „Hörarbeit“ oder „Anstrengung“ wie das ebenfalls fantastische, in dieser Woche reviewte neue Werk von Gus Englehorn – sondern eins von der Eingängigkeit der großen Prefab-Sprout-Platten, von Al Stewarts „Year of the Cat“ oder dem Debüt der Dire Straits, kaufen. Und muss als natural born Haptiker erleben, dass die CD keiner der gängigen Media Markte im Angebot hat, dass sogar das Berliner Kulturkaufhaus Dussmann nicht damit aufwarten kann und selbst Amazon passen muss. Bei Willie Nelson wird das hoffentlich leichter, der liefert in dieser Woche das behaglichste Album 2022 – so far.

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Rammstein auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Ja, es ist „Zeit“ für ein neues Rammstein-Album, und gleich vorweg: Ihr achtes ist mehr als ein Vierteljahrhundert nach „Herzeleid“ in gewisser Weise ihr schönstes. Schon die Vorboten waren groß: Als glamouröse Vegas-Metal-Botoxmonster machten Rammstein im Video zum synthilastigen „Zick Zack“ visuell eindrucksvoll auf die verzweifelten und vergeblichen Versuche vieler Zeitgenossen und Zeitgenossinnen aufmerksam, in der schönheitschirurgischen Schnippelkultur den mythischen Jungbrunnen zu finden. Zu „schöner, größer, härter“ verwandelt sich der gestraffte Til Lindemann immer mehr in Frankensteins Gesellenstück. Viel böser Witz, und dann noch eine Trans-Zeile, die eventuell ein Skandälchen bei den notorischen Missverstehern abwirft – „Ist die Frau im Mann nicht froh / alles ganz weg – sowieso“. Der Titelsong war noch stärker, eine schöne, schwere Ballade über die irdische Vergänglichkeit – wie ein Sinnieren über Goethes Sehnen nach Unsterblichkeit im Spätwerk „Faust II″ („Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: / Verweile doch, du bist so schön! / Es kann die Spur von meinen Erdetagen / Nicht in Äonen untergehn“). Im (ziemlich eindrucksvollen und unheimlichen) Video: Bilder des Krieges. Als hätten sie’s gewusst.

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Die Dunkelheit wird umarmt in „Schwarz“, die ewigen Fesseln der Familie straff gezurrt in „Meine Tränen“ und die Figuren in „Angst“ werden dem Titel des sie beherbergenden Lieds mehr als gerecht. Vergänglichkeit als Thema in gefühlt jeder Zeile und zwischen ihnen: Sogar der stumpfe Protagonist, der in „Dicke Titten“ in seiner Einsamkeit stumpf von einer üppigen Gefährtin träumt, lebt mental armselig seinem Finis entgegen. Ist das Album der Wink mit dem Zaunpfahl, soll es das nun auch gewesen sein mit den sechs? Der letzte Song von „Zeit“ heißt jedenfalls „Adieu“. Und Lindemann spricht vom „letzten Kuss“ und verspricht Endgültigkeit: „Kein Wunder wird gescheh’n“. Vielleicht ist das so. Vielleicht ist aber das Spiel mit dem Abschied der eigentliche Rammstein-Aufreger 2022. Und die Band verweilt alsdann doch weiter – schließlich sind die alle erst in ihren Fünfzigern. In Zeiten wie diesen sind jedenfalls Wunder gefragt und Schlussstriche schwer zu ertragen.

Rammstein – „Zeit“ (Rammstein)

Augenzwinkernder Willie Nelson über das sich zum Ende neigende Leben

Wenn es einen Anwärter auf das behaglichste Album des Jahres gibt, dann ist das – bis jetzt – Willie Nelsons „A Beautiful Time“. Nomen est omen, der Hörer hat mit diesen 14 Stücken eine wunderbare Zeit, auch wenn es auch hier vornehmlich um das zur Neige gehende Leben geht. Heute (29. April) wird der Mann 89 – Happy Birthday! – aber er ist immer noch generös, dieser größte Country-Outlaw neben Johnny Cash, den er nun schon um 19 Jahre überlebt hat. Jeder gepickte Ton der Gitarre schwingt durch, erhält die ihm gebührende Aufmerksamkeit, die Steelgitarre lässt über alldem eine Abendröte schimmern und wird nie (wie sonst ja gern mal) weinerlich.

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Und das wird Willie auch nicht, dessen tabakfarbene Stimme immer noch Kraft hat wie vor 40 Jahren. Er zieht eine positive Bilanz des Bardenlebens und hat immer noch Lust auf die Straße. Der letzte Song liegt noch in der Zukunft und wenn er ihn einst spielt, so singt er, wird er zufrieden auf die schöne Zeit blicken. Melancholie mit Augenzwinkern auch in „My Heart Was a Dancer“ und ganz viel in „I Don’t Go to Funerals“, wo Willie sich ein Willkommen in der Jenseitsband mit Merle Haggard, Johnny Cash und der „lieblichen Patsy Cline“ vorstellt. Auf seinem 72. (!) Soloalbum hat sich der emsige, ewig neugierige Grenzgänger auch in Leonard Cohens „Tower of Song“ begeben. Und aus „With a Little Help from My Friends“ macht er einen dylanesken Mundharmonikawalzer, der – neben der Woodstock-Gospelrockwalze von Joe Cocker – das Zeug hat, das zweite große Cover des Beatles-Klassikers zu werden.

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Willie Nelson – „A Beautiful Time“ (Legacy/Sony)

Mächtiger Groove - Trombone Shorty bittet zum Tanz

Kopf hoch, Tanzen! Troy Andrews’ alias Trombone Shortys „Lifted“, erschienen beim längst nicht mehr nur dem Jazz verhafteten Kultlabel Blue Note, ist schon ein extrem funkiges Fest – und zwar im mitreißendsten Wortsinn. Der 36-jährige R’n’B- und Jazzposaunist und ‑Trompeter weiß, dass man sich in immer noch (egal, wenn Leugner das leugnen) bedrückenden Zeiten der Pandemie (und neuerdings hitleresker Weltuntergangsdespoten) gelegentlich mal freitanzen muss. Genau das liefert der Mann aus Louisiana, man fühlt sich „vom Sitz gerissen“ von den ersten Klängen des Openers „Come Back“ und bleibt am Zappeln bis zum letzten von „Good Company“, man spürt Erde, Sturm, Feuer zugleich und will wieder über gläserne Tanzflächen mit eingebauten Lichtorgeln gleiten. Wie – lang ist’s her – John Travolta.

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Da wird nach Herzenslust gejammt, da hört der Groove nie auf und da fährt im Titelsong auch mal die frische ruppige Rock’n’Roll-Gitarre von Pete Murano in die schmissige Bläsersection. Die Gäste sind namhaft – von Bluesgitarrist Gary Clark Jr. bis zu der fantastischen Lady Blackbird, die sich mit sieben Backgroundgesängen für Trombone Shortys Beiträge zu ihrem Debüt „Black Acid Soul“ (muss man ebenfalls unbedingt haben!) revanchiert. Maceo winkt von Wolke neun zusammen mit der Mutter des Künstlers, Lois Nelson Andrews, der das Album gewidmet ist und die auf dem Cover mit dem kleinen Shorty zu sehen ist. Schon damals war er, das Plastiksaxofon an seinen Lippen zeigt’s – ganz Musik!

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Trombone Shorty – „Lifted“ (Blue Note Records)

Gus Englehorn - Kein Pop und Rock für Hasenherzen!

„Aug in Aug stand ich dem Tod gegenüber, aber ohne Furcht“, singt Gus Englehorn in „The Gate“, dem krassen, wechselvollen und sehr sehr spukigen Eröffnungsstück seines zweiten Albums „Dungeon Master“ (bis heute ist das Labyrinth im Computerspiel-Opa aus den 80ern, in dem Lord Chaos und seine Dämonen lauerten, ja wohl Kult, oder?). Irgendwann wird sich diese spannende, nicht unanstrengende Nummer wohl im Soundtrack besserer Mysteryserien, exquisiter Psychothriller und von „Dungeon Master“ inspirierten Games finden. Ein Song, der aus vielen Songs zusammengesetzt scheint, der das fortsetzt, was der aus Ninilchik, Alaska stammende, in Montreal lebende Songwriter auf seinem Debüt „Death & Transfiguration“ begann. Lieder über die Sterblichkeit (das Thema in dieser Woche!), über das Irrationale, das hinter den Gardinen des Lebens lauert, den hauchdünnen Firnis der Vernunft. Kein Pop für Hasenherzen!

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Das Liebliche ragt hier immer wieder aus dem Geschundenen und Geborstenen – inmitten fiebriger Gesänge ertönt plötzlich trautes Glockenspiel („Oh Well/Unwell“), zu Psychoseufzern und einer clashenden Garagengitarre („Exercise Your Demons“) gibt es einen Phil-Spector-haften „Then He Kissed Me“-Beat. Und „Ups & Downs“ klingt wie ein Screaming Lord Sutch, der darüber verzweifelt, nicht mehr aus Elton Johns „Crocodile Rock“ herauszufinden. Es geht mit der Indieachterbahn in Seelenabgründe, wo das „Terrible House“ die Tür aufschlägt und wo „Tarantula“ flüstert (echt Zeit für ein Remake dieses Monsterfilmklassikers aus den Fünfzigern). Englehorn säuselt, singt, seufzt, rappt, lässt heulenden oder spöttischen oder hart am Irrsinn langschrappenden Gesang hören, er ist in „Run Rabbit Run“ der Meister des maschinengewehrhaften Repetitiven, um nur einen Atemzug später Donovans „Hurdy Gurdy“-Exaltiertheit zu frönen (man höre das treibende „Run Rabbit Run“). Das hier ist Lord Chaos’ Irrgarten in Sound, kaum einer hat die Jahre von Seuche, Isolation und Einsamkeit so beängstigend gut umgesetzt wie Englehorn. „It’s like heaven, just like heaven to me“ singt er zum Kehraus in „The Flea“. Wenn so der Himmel aussieht … Eins der intensivsten Alben des Jahres.

Gus Englehorn – „Dungeon Master“ (Secret City Records / Rough Trade)

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Die Schotten Cold Years punken nicht in der Opferrolle

Und noch eins aus den Klammern der Pandemie – die Zweite von Schottlands Neupunks Cold Years. Die kalten Jahre werden indes hörbar lauer für Aberdeens Herren des Unglücks – die extrem düstere Stimmung der Gefangenschaft in der kleinen, öden Stadt, die auf dem Debüt „Paradise“ von 2020 zu finden war, macht zumindest auf dem Eingangssong einer hoffnungsvolleren Haltung Platz. „Ich hab das Messer aus meiner Brust gezogen / und jetzt fühle ich mich lebendig“, singt Ross Gordon in „32″ (bezogen auf sein Alter beim Schreiben des Lieds), einem Song, der wie schmusiges Teeniepopsäuseln losgeht, bevor der Punk dann aus den Boxen kracht. „Wir sind die Generation ‚Fuck it all!‘“ röhrt Gordon ins Mikro. Jau! Das hat schon Kraft.

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Und es wird sich dabei nicht in die Opferrolle begeben – Selbstbestimmung ist Trumpf. Rise Against und My Chemical Romance, vor allem aber die süffigen Green Day zählen hörbar zu den Ahnen dieses Sounds, bei dem trotz allen Wumms, trotz aller Highspeedgitarren die Melodien („Headstone“) nie zu kurz kommen. Ein Liebeslied ohne Schmalz und ohne die übliche rigorose Tempodrosselung ist „Jane“. Und in „Home“ bricht das Trio noch ein Länzchen für die im Voralbum kritisierte Heimatstadt, die man halt wieder lieben kann, wenn man ihr erstmal entkommen ist. Natürlich ist „Goodbye to Misery“ auch Cold Days’ Corona-Album, erzählt vom veränderten Blick auf eine Welt, in der nichts mehr gesetzt und gewiss ist. In der besseren Welt würde man catchy Krawall wie „Wasting Away“, „Never Coming Back“ oder „Say Goodbye“ morgens im Radio hören. In dieser Welt befinden wir uns aber nicht.

Cold Years – „Goodbye to Misery“ (Inside Job)

Old Crown Medicine Show - bestes Album mit neuem Sänger

Ganz weit weg und zugleich doch ganz nah von/an Cold Years ist die vor nunmehr 24 Jahren gegründete Old Crow Medicine Show aus Nashville. Deren Bandmitglieder pflegen auf ihrem neuen Studioalbum „Paint This Town“ einen Volldampf-Folkrock, einen Punkcountry mit einem wohltuend rauen Sound, mit flirrenden Fiedeln und zwitschernder Harp. Die Grammygewinner um den frenetischen Frontmann und Mitgründer Ketch Secor, der den Platz des 2020 ausgeschiedenen Critter Fuqua am Mikrofon sehr erfolgreich eingenommen hat, sind hörbar Dylan-Fans, wie sich nicht nur im Titelsong feststellen lässt. Und sie bringen jeden Heubodenabend mit Highspeed-Bluegrass wie „Bombs Away“ auf Touren – da ist Secor ganz offenkundig kurz vorm Jodeln. Auf (eigenwilligen) Rockabilly versteht dich die OCMS überdies, wie „Lord Willing and the Creek Don‘t Rise“ mit seiner zwitschernden Harp beweist. Königssong ist indes „Painkiller“ – ein wildpunkiger Ritt durch Amerikas von Pharmakonzernen verursachte Opioidkrise metaphorisch als Zugfahrt getarnt. „Mir läuft die Zeit bis zum Ende der Zeile davon / Ich verbrenne mein Gehirn bis zum allerletzten Korn / ich fahre wahnsinnig mit dem Zug, den sie ‚Painkiller‘ nennen.“ Tipp: Die Serie „Dopesick“ anschauen. Läuft bei Disney+.

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Die demokratische Schieflage der USA in den Trump-Jahren hatte den Bandgeist der Old Crow Medicine Show neu belebt. Die Politsongs des Vorjahres („Nashville Rising“, „Quarantined“ und „Pray for America“) wurden zwar – schade – nicht aufs Album genommen. Dafür gibt es neue Statements: In dem indie-bluesigen „John Brown’s Dream“ (basierend auf der Melodie von Dylans „John Brown“) wird die Geschichte von Amerikas vielleicht berühmtestem (1859 gehängten) Kämpfer gegen die Sklaverei erzählt und in „New Mississippi Flag“, einer Ballade mit klimperndem Banjo, wird die Abkehr von der mit dem Ruch des Rassismus behafteten alten Staatsfahne begrüßt. Die neue enthalte einen Streifen für die schwarze Bluesikone Robert Johnson, singt Secor, und eine für Charley Pride, den ersten Afroamerikaner, der in die Country Hall of Fame aufgenommen wurde: „Höchste Zeit, dass sie (die Fahne, Anm. d. Red.) alle die ehrt, die nie Gerechtigkeit fanden / und all ihre Söhne und Töchter, die auf dem Weg zur Veränderung gestorben sind.“ Rightyright.

Old Crow Medicine Show – „Paint This Town“ (Ato Records/Pias/Rough Trade)

Die Schwedin Emma Elisabeth und die Strähnen der Sechzigerjahre

Emma Elisabeth (Dittrich) ist Schwedin, Globetrotterin, seit Kurzem (Wahl-)Berlinerin. Ihre Faszination für die Musik der Sechziger- und Siebzigerjahre, die ihr letztes Album „Melancholic Milkshake“ (2019) prägte, dringt auch aus den Songs des Nachfolgers an unser Ohr. In einem Lied wie „Lovers“ findet sich sowohl der Ronettes-Beat früher Phil-Spector-Produktionen als auch – im Refrain – Fleetwood-Mac-Harmonien der Buckingham-Nicks-Ära. Wehmut weht – selbst eine affirmative Auffordung zu Sinnlichem wie „Hold me closer, kiss me quick“ wird von Strähnen der Melancholie durchzogen. In „Vampires“ über eine Liebe, die unsterblich sein sollte, aber nicht ganz spannungsfrei (und wohl auch nicht auf Augenhöhe) ist, sind neben geisterhaften Twangs zarte psychedelische Bögen auszumachen, wie sie das Popjahr 1967 beherrschten.

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Das Album „Some Kind of Paradise“ ist ein hübsches, trauriges Blinken in tiefschwarzer Nacht, ein Album für alle, die gern in Lana-Del-Rey-Abgründe tauchen, aber anders, vielfarbiger – auch schon mal wavig à la The Cure („Heart on a String“) oder mit Springsteens „I’m on Fire“-Rhythmus in „Tray Full of Ash“, und mal mit fuzzigem Gitarrengrummeln in „Like U Care“. Da erinnert man sich an die Weh-und-Ach-Americana von Mazzy Stars Hope Sandoval. „Ich will deine Augen auf mir (spüren) / wenn ich wegschaue“, seufzt Emma Elisabeth. Und natürlich schauen wir hin – schließlich scheint sie mit ihrer schläfrigen Stimme zu schweben wie in einem leuchtenden Fluidum.

Emma Elisabeth – „Some Kind of Paradise“ (Clouds Hill)

Debütant Patrick Noe liefert Aufbaumusik für nicht so gute Tage

Ein spät Debütierender. Natürlich hat der Limbacher Patrick Noe, Baujahr 1978, das Musikmachen nicht erst mit seinem jetzt erscheinenden Debütalbum „Ich“ angefangen. Davon zeugt schon die geschliffene Produktion und der Aufbau der Songs. Hier kommt jemand, der weiß, was er will – ins Radio, an die Fanmassen, die Spatzen sollen seine Lieder gefälligst von den Dächern pfeifen. Das Album ist dabei, anders als der Titel vermuten lässt, kein solipsistischer Egotrip, sondern es gibt im Gegenteil was für alle: den Schlagertext für die Freudinnen und Freunde der simplen lyrischen Umarmung, Elektrosounds für die E-Pop-Freunde und eine gniedelnde Rock- oder eine klingelnde U2-E-Gitarre für die, die härter drauf sind (aber nur genau so lange, dass der Adel-Tawil-Fan am Bügeleisen nicht den Sender wechselt). „Ich“ ist voller Aufbaumusik für nicht so gute Tage, derer es derzeit viele gibt. Hier kommt Musik, wie sie uns auch Mark Forster, Max Giesinger oder Revolverheld liefern.

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Da wird Schubidu wie „Himmel“ rübergereicht („Das muss der Himmel sein, in dem wir schweben / das muss der Himmel sein, von dem sie alle reden“), wird die Frage nach den Weiten des analogen Menschleins im digitalen Universum gestellt (in „Ein Mann, ein Wort“, das stakkatorhythmisch an Billy Joels „We Didn‘t Start the Fire“ angelehnt ist) und es wird im hymnischen Midtempostück „2020″ auch der Klimawandel angesprochen, der unsere größte Sorge sein sollte, es aber derzeit nicht ist („Was erzähl’n wir den Kindern?“). Auf der Suche nach dem Supersong kommt Noe dabei zuweilen auch mal anderen Supersongs nahe. Oder warum singt man im Geiste bei „Nur für dich“ („Ich bin so weit weg von dem perfekten Mann / trotzdem fühlt es sich an, als ob ich alles kann) die ganze Zeit „Last Christmas, I gave you my Heart …“ quer?

Patrick Noe – „Ich“ (BMG)

Bei Norah Jones scheint der Mond wie ein Löffel

Ein Jubiläumspaket aus der Jazzabteilung. „Come Away with Me“ hieß 2002 das Debüt von Ravi Shankars Tochter Norah Jones. Und wir brannten gerne durch mit dieser Pianistin mit ihrem wohlig-warmen Anschlag und ihrer weichen, umarmenden Stimme. „Don’t Know Why“, der Titelsong, Hank Williams’ „Cold Cold Heart“, J. D. Loudermilks „Turn Me On“, das eigene „Nightingale“ – alles sanft tastende Schönheiten. Nein, wir wollen nicht noch einmal eine Albumkritik nachschieben. Nur soviel: Die 22-Jährige schmust den Blues, säuselt den Soul. Kategorisierung? Zwecklos. Norah Jones’ Debüt erschien beim sich damals öffnenden Jazzlabel Blue Note, stand damals schon im Regal unter Pop und ist bis heute – wiewohl jazzdominiert – einfach spartenübergreifend gut.

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Wie die Sängerin selbst, die sich längst auch als herausragende Americana-Künstlerin einen Namen gemacht hat. Das Gesamtpaket kann sich blicken lassen: Zwei zusätzliche Discs (oder drei zusätzliche Vinylscheiben) enthält die 20th Anniversary Edition: 30 zusätzliche Aufnahmen werden gereicht, Lieder des Debüts in alternativen Einspielungen, aber auch viele andere Songs. Zum überwiegenden Teil sind sie unveröffentlicht, alle aber sind sie zumindest schwer zu kriegen. Die Bandbreite reicht von Ella Fitzgeralds tieftrauriger Ballade „Spring Can Really Hang You up the Most“ bis zu Johnny Cashs zu den Akustikgitarren von Bill Frisell und Kevin Breit geflüsterten „A Little at a Time“. Und viele behaupten ja, das schönste Liebeslied von Bob Dylan sei „To Make You Feel My Love“. Aber natürlich ist es in Wahrheit „I’ll Be Your Baby Tonight“ mit seiner wunderbaren trauten Zeile vom fetten Mond als schimmerndem Löffel am Nachthimmel. Die meisten kennen das von Robert Palmer und UB 40. Norah Jones liefert eine Honkytonkversion, auf der das Akkordeon wohlig schubbert und seufzt. Hach!

Norah Jones – „Come Away with Me“ – 20th Anniversary Edition (Blue Note)

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