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Kinofilm

„3096 Tage“ erzählt die Leidensgeschichte der Natascha Kampusch

Gefangen auf fünf Quadratmetern: Natascha Kampusch (Antonia Campbell-Hughes) im Verlies.

Gefangen auf fünf Quadratmetern: Natascha Kampusch (Antonia Campbell-Hughes) im Verlies.

Hannover. Wenn man ehrlich ist, möchte man diesen Film gar nicht sehen. Weil man glaubt zu kennen, was einem gezeigt werden wird, aber auch weil sich Angst und Unwohlsein breitmacht vor den großen Kinobildern, in denen das Schreckliche Gestalt annimmt. Kaum ein privates Ereignis wurde medial derart ausgeschlachtet wie die Entführung von Natascha Kampusch, die in Strasshof, Niederösterreich, von dem Fernmeldetechniker Wolfgang Priklopil achteinhalb Jahre gefangen gehalten wurde. Man sieht die Bilder vor sich: der weiße Kastenwagen, in den die Zehnjährige am 2. März 1998 gezerrt wurde, das fünf Quadratmeter große Verlies, in dem sie eingesperrt war, die schwere Beton­eisentür, die sich hinter ihr schloss.

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All das ist bekannt aus Fernsehreportagen, Zeitungsartikeln und den Erzählungen von Natascha Kampusch, die in TV-Interviews Auskunft gegeben und ein Buch über ihre Gefangenschaft verfasst hat. Dennoch sieht alles anders aus in diesem Film, den Sherry Hormann („Wüstenblume“) nach dem Drehbuch von Ruth Thoma und dem verstorbenen Produzenten Bernd Eichinger gedreht hat. Die Bilder in „3096 Tage“ sind deutlich unspektakulärer als in den medial befeuerten Phantasien.

Keine Sekunde dauert es, da ist das Mädchen im Lieferwagen verschwunden. In eine Decke gehüllt wird Natascha (Amelia Pidgeon/Antonia Campbell-Hughes) auf den nackten Boden der Zelle gelegt und bleibt dort erst einmal vor Angst erstarrt liegen. Nur langsam entwindet sich die Zehnjährige aus der Decke. Das Begreifen der Unweigerlichkeit des Gefangenseins ist einer der schmerzhaftesten Momente des Films. Der Entführer Priklopil (Thure Lindhardt) mag verrückt sein, aber seine Handlungen sind von einer kalten Systematik bestimmt. Er kappt die seelischen Verbindungen nach außen und ahndet jedes Aufbegehren mit Nahrungsentzug. „Ich bin deine Mutter. Ich bin dein Vater. Ich bin deine Familie. Du gehörst jetzt mir, weil ich dich erschaffen habe“, sagt er später und gibt dem Mädchen einen neuen Namen, den er mit ihm gemeinsam im Kalender aussucht. Diese Szenen gibt es immer wieder, in denen der Täter in der totalen Unterdrückung auch das Einvernehmen mit dem Opfer sucht – und gelegentlich findet. Die Gehirnwäsche, der das Mädchen ausgesetzt ist, bleibt nicht ohne Wirkung, wenn der Manipulator der einzige Bezugspunkt im Leben ist. „3096 Tage“ erzählt den Fall Kampusch als Beziehungsgeschichte zwischen Täter und Opfer.

Priklopil ist kein Monster, sondern ein Psychopath, der mit langfristigem Kalkül den Willen seines Opfers zu brechen versucht, dem Mädchen punktuell mit Zuneigung begegnet und sie am nächsten Tag wieder schlägt, wenn sie den Tisch nicht sauber genug abgewischt hat. Aber Natascha Kampusch wird nicht ins Opferklischee gedrängt. Sehr differenziert zeigt Hormann ihren allmählichen Reifungsprozess in der Gefangenschaft. Sowohl die emotionale Bedürftigkeit, die sie immer wieder in die Arme des Peinigers treibt, als auch das wachsende Selbstbewusstsein, die zunehmende Abgrenzung gegenüber ihrem Entführer.

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Hormann und ihre Drehbuchautorin Ruth Thoma haben entschieden, auch den sexuellen Missbrauch zu zeigen, den Natascha Kampusch in Interviews und in ihrem Buch gezielt ausgeklammert hat. Auch wenn der Film diese Sequenzen sensibel inszeniert und dieser Aspekt sicher von großer Bedeutung ist – der fade Nachgeschmack beim Lüften dieses „letzten Geheimnisses“ bleibt bestehen.

Demgegenüber stehen die Qualitäten des Filmes, der durch seinen nüchternen Blick tief berührt und in der genauen Analyse des Einzelfalles die Taten Priklopils auch als extreme Ausformung eines gesellschaftlichen Gewaltverhältnisses begreift. Gleichzeitig zollt der Film der Haltung Kampuschs, die sich der Stigmatisierung als Opfer stets entschieden verweigerte, tiefen Respekt, indem er die Lebenskräfte zeigt, die in dem Mädchen trotz totaler Isolation und Repression heranwachsen.

Der Film hört dort auf, wo die öffentliche Wahrnehmung Natascha Kampuschs beginnt. Und wenn sie aus der von Reportern belagerten Polizeistation hinaustritt, ist sie wie vor 3096 Tagen wieder in eine Wolldecke gehüllt, um sich vor den begierigen Blicken der Weltöffentlichkeit zu schützen.

Beziehungsgeschichte zwischen Täter und Opfer: Sensible Analyse. Cinemaxx Raschplatz, CineStar

Martin Schwickert

HAZ

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