Dieter Oesterlen und seine Arbeiten zwischen Tradition und Moderne
"Die gewaltige Schönheit des Baus ist jetzt erst sichtbar geworden.“ So sprach 1952 zur Einweihung der Marktkirche der Landesbischof in Hannover, Hanns Lilje. Den Wiederaufbau dieses Gotteshauses hatte Dieter Oesterlen zu verantworten, der damit seinen Ruhm als Architekt im Umgang mit historischer Bausubstanz begründete. Oesterlen baute die Marktkirche nicht einfach wieder so auf, wie sie vor dem Krieg mit ihren Einbauten aus vielen Jahrhunderten war, sondern verband die ursprüngliche Weite des gotischen Hallenraums mit einer zeitgenössischen Architektursprache. Er nutzte Trümmersteine zum Wiederaufbau und ließ so die faszinierende Oberflächenqualität des alten Materials zum beherrschenden Element des sakralen Raums werden. Kombiniert mit neuen Gewölberippen aus Beton und der geschwungenen Orgel ist die Marktkirche in Hannover bis heute ein Ort der Besinnung und Einkehr, der viele Menschen anzieht.
Dieter Oesterlen (1911–1994) studierte bei Paul Schmitthenner, Heinrich Tessenow und Hans Poelzig Architektur. Vieles, was er vor allem bei Poelzig gelernt hatte, gab er als Entwurfslehrer an der Technischen Hochschule Braunschweig ab 1952 weiter und war so maßgeblich beteiligt am überregionalen Ruf der „Braunschweiger Schule“. Nach Beendigung seines Studiums absolvierte er eine Ausbildung zum Regierungsbaumeister, aber erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges begann eine Karriere, die ihn weit über die regionalen Grenzen hinweg bekannt machte.
Oesterlen gehört einer Generation von Architekten an, die wie keine andere durch die unterschiedlichen politischen Systeme Deutschlands und die damit verbundenen biografischen Brüche geprägt ist. Der individuelle Aufbruch nach 1945 traf zusammen mit dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach einer Architektur, die symbolisch für den politischen Neuanfang stand. Dies konnte nur die moderne Architektur sein, der „International Style“ bettete die junge Demokratie der Bundesrepublik in die westliche, an Amerika orientierte Staatengemeinschaft ein.
Oesterlens Generation einte der unbedingte Fortschrittsglaube und die Überzeugung, dass dem Architekten eine hohe Bedeutung beim Aufbau einer neuen Gesellschaft zukomme. Oesterlen hat deutschlandweit wie international herausragende Bauten der Nachkriegsmoderne geschaffen: der Soldatenfriedhof auf dem Futa-Pass in Oberitalien (1967), die Deutsche Botschaft in Buenos Aires (1983) und in Hannover die Bauten für den NDR (bis 1963), das Hotel am Thielenplatz (1953), das Haus der Hannoverschen Industrie (1957) und das Bankhaus Nicolai am Schiffgraben (1958) sowie die Volkswagen-Stiftung (1969) sind nur einige der insgesamt fast 100 Bauwerke, die Dieter Oesterlen nach 1945 realisierte.
Eine Besonderheit im Werk des Architekten, für die er bis heute steht, war die Auseinandersetzung mit historischer Bausubstanz. Zutiefst beeindruckt von der Trümmerlandschaft nach dem Krieg setzte er sich Zeit seines Lebens für den Erhalt der wenigen „Reliquien in der Wüste der Geschichtslosigkeit“ – wie er selbst es ausdrückte – ein. Seine Wiederaufbauten zeigen eine Synthese zwischen regionalen Traditionslinien und internationalen modernen Strömungen. Es ging ihm wie seinen Zeitgenossen nie um eine bauhistorisch korrekte Rekonstruktion der kriegszerstörten Bauten, sondern um das „Weiterbauen“ in die eigene Zeit. Eine einfache Rekonstruktion und damit die Auslöschung von Krieg und Nationalsozialismus als historische Spur war in dieser Zeit indiskutabel. Schon 1947 machte ein Aufruf von Architekten und Bildhauern wie Otto Bartning, Egon Eiermann und Gerhard Marcks dies deutlich: „Das zerstörte Erbe kann nur für neue Aufgaben in neuer Form entstehen.“ Auch Oesterlen war der festen Überzeugung, dass der Wiederaufbau ein „Gradmesser für unsere Zeit“ zu sein hatte. Die Transformation des historischen Baus zu einem zeitgemäßen Raum war sein Ziel, und er war einer der bekanntesten Architekten für derartige Aufgaben.
Aufträge für den Aufbau der hannoverschen Börse (1951), das inzwischen nicht mehr existierende Café Kröpcke (1947), den Anbau des Landtages an das Leineschloss Hannover (1962) und für Bauten der TH Braunschweig (bis 1959), das Kunsthaus Herford (1975) und das Historische Museum (1966) zeugen ebenso davon wie zahlreiche kirchliche Aufträge für Um- und Aufbauten, zum Beispiel die Liebfrauenkirche in Bremen (1964) und die Lambertikirche in Oldenburg (1972).
Der evangelische Kirchenbau bot ein weiteres Aufgabenfeld für Oesterlen. Die Qualität dieser reduziert-schönen Innenräume machte ihn zu einem der bekanntesten Kirchenbauarchitekten im Nachkriegsdeutschland. Vor allem die Martinskirche in Hannover-Linden (1957), die Christuskirche in Bochum (1959), die Stadtkirche in Jever (1964) und die Zwölf-Apostel-Kirche in Hildesheim (1967) zählen zu beeindruckenden Exempeln moderner Sakralarchitektur. Auch hier ist es die Materialität des Sichtbacksteins, die spektakuläre Wirkung der kristallin gefalteten Innenräume, die diese Kirchen bis heute zu wirkungsvollen Sakralstätten macht.
Oesterlen schuf Räume, die herausragende Beispiele für den unbedingten Willen zur „zeitgemäßen Form“ in der Zeit des Wiederaufbaus sind. Vor allem der hannoverschen Trias aus Historischem Museum, Landtag und Marktkirche kommt eine besondere Rolle zu. Sie steht symbolisch für den Neuaufbruch von Kultur, Religion und Politik nach 1945 im neuen Bundesland Niedersachsen und prägt bis heute die Identität der Stadt. Der Landtag ist nicht nur wesentlicher Bestandteil dessen, nicht nur das wichtigste Projekt Oesterlens selbst, sondern auch weit über Hannovers Grenzen hinaus ein bis heute viel beachtetes und besprochenes Projekt. „Einfühlungsgabe und Demut“ waren für Oesterlen bei der Überführung historischer Bauten in seine Zeit das Ziel. In diesem Sinne sollten auch wir seine Bauten schützen und behutsam weiterbauen, denn sie sind Teil unserer Geschichte und damit unserer eigenen Zeit.
Anne Schmedding ist Kunsthistorikerin und lebt in Berlin. Sie arbeitet momentan an einer Dissertation über Dieter Oesterlen.
HAZ