Pop 2020: Neue Alben von Depeche Mode, Neil Young, Chester Bennington
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Zwei DVDs, zwei CDs voll mit Depeche Mode live: Martin Gore (l.) und Dave Gahan bringen heute (26. Juni) das Powerpaket “Spirits in the Forest” auf den Markt.
© Quelle: dpa
Es gibt wieder einige Alben, die diese Woche herauskommen. Ein Blick auf die größten Neuigkeiten:
Neil Young bringt alle Songs an den richtigen Platz
“Liebe ist eine Rose, aber du pflückst sie besser nicht”, singt Neil Young im Song “Love Is a Rose”. Dass sein Lamento so jung klingt, liegt daran, dass “Homegrown” eine 45 Jahre alte Platte ist. Young hatte damals die Rose namens Liebe gepflückt, sich an der Beziehung mit der Schauspielerin Carrie Snodgress gestochen, schwer gelitten, und beschlossen, das ihm viel zu persönliche Werk auf ewig in den Giftschrank zu verbannen. “Es war der Liebeskummer”, sagt der Kanadier heute, “ich konnte es mir einfach nicht anhören.” Weil die Zeit aber alle Wunden heilt, am Ende sogar die der großen vergebenen Chance, können sich die Youngmaniacs jetzt freuen, denn “Homegrown” gehört zum Eingängigsten, was der heute 74-Jährige je aufgenommen hat.
Eine vorwiegend akustische Scheibe, die an “Harvest” (1972) erinnert, nicht zuletzt, weil der Eröffnungssong “Separate Ways” (mit der bitteren Zeile “I won’t forgive”) an den Klassiker “Heart of Gold” erinnert, und weil die schimmernden Pedal-Steel-Bögen von Ben Keith und das Spiel von Bassmann Tim Drummond zuweilen – man höre etwa “Try” – ein trautes Countryfolk-Feeling erzeugen. Nicht wenige der zwölf Lieder waren über die Jahre schon in Live- und Studioversionen zu hören: “Mexico” beispielsweise, “Kansas” und – “Love Is a Rose”. Aber hier, zwischen dem schweren Blues von “We Don’t Smoke It No More”, dem zornigen Rock’n’Roll von “Vacancy” und der traurig-trauten Mundharmonika-Melancholie von “Star of Bethlehem” sind sie erst alle Seit an Seit am richtigen Ort.
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Neil Young – “Homegrown” (Reprise/Warner)
Elen verwechselt Gefühle nicht mit Befindlichkeiten
Ja, Elen aus Berlin singt auch über Gefühle wie so viele, aber sie zählt eben nicht zur Legion der muttersprachlich orientierten Jammerlappen und Befindlichkeitslieschen, die unser Emozentrum in den vergangenen Jahren über Gebühr strapazierten und uns dazu brachten, den Standardradiosendern auf ewig Adieu zu sagen. Vor allem ob ihrer dunklen, enorm soulvollen Stimme, aber auch wegen des Witzes und Selbstbewusstseins in so manchen Texten und der Vielseitigkeit im Sound erweist sich die “Voice of Germany”-Teilnehmerin auf ihrem zweiten Album (dem Debüt in deutscher Sprache) als originelle Newcomerin, die es trotzdem in die im Eingangssatz gescholtenen Sender bringen kann.
Mit “Liegen ist Frieden” über einen Tag Auszeit, an dem man nicht den üblichen, üblen Ritualen und Anforderungen folgt, hat sie das bereits geschafft. Wer liegenbleibt, so die Phlegmamessage, den trifft keine Schuld an nix. Von Gospel über Rock bis Elektro reicht Elen de Jongs Bandbreite, vom schleppenden “5 Meter Mauern” über das brodelnde “Andere Arcaden” bis zum treibenden (überragenden) “Gut werden” liefert sie jede Menge Überzeugungsarbeiten ab.
Jetzt steht de Jong vor der Gabelung – sie kann sich mit ihrer Musik auf die Adel Tawils und Mark Forsters der Radiorepublik zubewegen oder ihr Ding durchziehen und noch spektakulärer werden. “Happy End” heißt der letzte Song. Das hoffen wir!
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Elen – “Blind über Rot” (Vertigo/Universal)
Kansas liebt den Planeten
Der Song “Carry On Wayward Son” rockte jede Party damals in den frühen Siebzigern, als die Welt noch jung war, die Altvorderen Rockmusik als Vorbotin des Zivilisationsendes empfanden, das Haupthaar noch lang und die musikalische Toleranz schmal sein musste, man Pink Floyd, Yes, King Crimson, und allenfalls die Earthband leiden durfte und Sweet, Slade und vor allem die Bay City Rollers knietief hassen musste. Kansas war in den frühen Siebzigern die amerikanische Progrockband, die auch die Bedeutung der Gitarre nicht vergaß. Als Kansas 1979 mit dem Album “Monolith” und der Single “People of the Southwind” eine zarte Annäherung an die Diskotheken machte (wie in jenem Jahr fast alle Rockbands), schwand der Erfolg, wuchsen die Spannungen innerhalb der Gruppe.
Kansas aber hat – nach allerhand Besetzungswechseln – überlebt. Aus den Gründertagen sind immerhin noch Gitarrist Rich Williams und Schlagzeuger Phillip Ehart dabei. Mit dem aktuellen Sänger Ronnie Platt und dem neuen Keyboarder Tom Brislin haben sie mit ihrem 16. Album “The Absence of Presence” eine Scheibe veröffentlicht, deren eisige Pianoschläge, deren Fiedel, strudelnde Orgel und singender Synthesizer gleich zu Beginn zeigen, dass Konzessionen an den Massengeschmack weitgehend unterbleiben werden. Vertrackte Rhythmen und Soli von Keyboards und Gitarre dominieren, während Ronnie Platt im Titelsong mit strahlender Stimme über eine Welt sinniert, deren ins Digitale flüchtende Menschen nicht mehr im Hier und Jetzt verankert sind.
Unter den Fittichen des Gitarristen entfalten sich komplexe Songs, die manchmal Vexierlyrics aufzuweisen scheinen. “Jets Overhead” lässt sich sowohl als Liebeslied als auch als Mahnung an die lesen, die den Planeten nicht für kommende Generationen retten wollen. Immer wieder überrascht Kansas mit Brüchen, bis mit der Lebensbilanz und dem Lebenshunger von “Never” eine schlichte, schöne, vom Piano getragene Ballade auftaucht. Gewiss, die ist nicht so filigran und markant wie ihr Klassiker “Dust in The Wind”, aber doch eine zum Mitsingen für all die, deren langes Haupthaar an Dichte und Farbe eingebüßt haben mag, deren Faible für Virtuosität aber gleich geblieben ist, und für Jüngere mit Neugier, denen die Charts von 2020 viel zu monochrom und monoton sind.
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Kansas – “The Absence of Presence” (Inside Out/Sony)
Grey Daze feiert Chester Bennington mit neuen Varianten alter Songs
“Manchmal scheinen die Dinge einfach auseinanderzufallen / wenn man es am wenigsten erwartet. / Manchmal will man zusammenpacken und sie alle zurücklassen / mitsamt ihrem Grinsen”, singt Chester Bennington in “Sometimes”. Hier hören wir noch einmal den verzweifelten, brennenden, flehentlichen, brüllenden, herzzerreißenden Gesang dieses Ausnahmeperformers, so wie sich Millionen Fans sich das gewünscht hatten, die den Wandel seiner Nu-Metal-Band Linkin Park zu einem chartszugewandten Popvehikel am Ende nicht mehr recht nachvollziehen konnten.
Mehrfach hatte Bennington schon versucht, seine alte Band Grey Daze zu reformieren. Im Frühjahr 2017 schließlich begann er mit seinen alten Weggefährten Songs der beiden vergriffenen GD-Alben neu aufzunehmen. Sein Selbstmord kurz nach dem von Soundgardens Chris Cornell (bei dessen Beerdigung Bennington gesungen hatte) schien das Ende des Projekts zu sein.
Und jetzt erscheint “Amends” eben doch – ein Album mit Benningtons sensationell remastertem Gesang und neuen Instrumentierungen, die die Antlitze der durchweg großartigen Lieder verändern, ohne ihren Charakter zu verraten. Vieles hier ist balladesk, doch ob des frenetischen Gesangs und der Kraft der Gitarren darf man die “Wiedergutmachungen” als eines der energetischsten Rock’n’Roll-Alben des Jahres bezeichnen. Das schwerblütige, wehmütige Grunge-Grollen, das zur Zeit des Entstehens der GD-Alben dominant war, schimmert immer noch durch die neuen Arrangements.
Benningtons Freund aus schweren Teenagertagen (und Bandgründer/Schlagzeuger) Sean Dowdell holte nicht nur die alten Bandmitglieder an Bord (Gitarrist Jason Barnes und Bassmann Mace Beyers), auch Brian Welch und James Shaffer von Korn, Page Hamilton von Helmet und Chris Traynor von Bush sind hier (unter anderen) hochkarätige und hochmotivierte Gäste.
Es sind die Lieder eines geschundenen Menschen, der in einem lieblosen Elternhaus groß wurde, in der Schule gemobbt wurde, sexuellen Missbrauch erfuhr, nie wirklich irgendwo ankam und auch in seiner Million-Dollar-Band Linkin Park keine wirklich dauerhafte Freiheit erfuhr. Hier kommt seine unverblümte Weltsicht als junger Mann und, besieht man Benningtons Leben vom Ende her, schmerzen die Zeilen doppelt: “Leute kommen vorbei / Leute bringen einen runter / egal, wo man hingeht, / jeder, den man trifft, / so ist das”, singt er in “The Syndrome”. Das Cover ist eine Rose, die Platte ist auch eine. Bennington-Fans werden sie im Player aufblühen lassen.
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Grey Daze – “Amends” (Loma Vista Recordings)
Depeche Mode und die Macht der Musik
Depeche Mode hat 2020 ein dickes Paket geschnürt: einen Konzertfilm, der unter Regie ihres Freundes Anton Corbijn entstand, ein Konzert in voller Länge auf einer zweiten DVD und eine Doppel-Live-CD für die CD-Player der Welt. Das kommt gut, weil Depeche Mode mehr denn je eine der verführerischsten und intensivsten Konzertbands des Planeten ist und weil unter Corona-Zwängen das Bedürfnis, einmal wieder richtig abzurocken, inzwischen zu einem Berg geworden ist. Wer die Gig-DVD “Live Spirits” vom Abschluss ihrer “Global Spirits”-Tour zum Album “Spirit” auf der Berliner Waldbühne sieht, der wünscht sich, es wäre ein normaler Sommer, und überall würden Open Airs auf einen warten.
Gut ist: Depeche Mode knattert nicht einfach ihre Hits runter, viele ihrer Klassiker lässt sie außen vor, jüngere Songs wurden eben nicht nur gemacht, weil man halt ab und zu neue Alben machen muss, sie werden auch reichlich in den Livekanon aufgenommen. So reicht die Auswahl von “Cover Me” bis zum frühen Vince-Clarke-Stück “Just Can’t Get Enough”, mit dem das Doppel-Livealbum schließt. Als Schmankerl gibt es eine Version von Bowies “Heroes” im Schleichgang. Der Song hat doppelte Bedeutung, war er doch einst das Entrée für Dave Gahan zu Depeche Mode.
Hat man die reine Musik durch, gibt einem Corbijns Verbindung des Berliner Konzerts mit dem Schicksal von sechs Fans aus wahrhaftig aller Welt eine Vorstellung von den heilenden Kräften der Musik. Sie erweist sich als hilfreich bei Trennungen, Coming-outs oder bei dem Gefühl, am Ende der Welt zu leben. Und bei der Französin Carine Puzenat war sie die letzte Verbindung zu ihrem alten Sein. Nach einem Unfall hatte sie ihr Gedächtnis verloren, kannte nichts und niemanden aus ihrem alten Leben – allein die Songs von Depeche Mode waren in ihrer Erinnerung verblieben. Anrührend!
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Depeche Mode – “Spirits in The Forest” (Columbia/Sony).
RND