Sharon Kam spielt Thorsten Encke
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Lebensraum Orchester: Sharon Kam bei der Uraufführung im Funkhaus.
© Quelle: Samantha Franson
Hannover. Diese Frau kann alles spielen. Sharon Kam ist eine perfekte Klarinettistin und eine vollendete Musikerin. Da wundert einen nichts. Bei ihrem Radiophilharmonie-Auftritt im Funkhaus allerdings konnte man nun doch leicht das Vertrauen in seine Ohren verlieren. Was sind das für unerhörte Klänge? Leise leuchtende Töne, die sich wie in einem Prisma in symetrische Schichten brechen. Noten mit heimlichen Doppelgängern, die man nur bemerkt, wenn sie sich für einen Moment in verschiedene Richtungen bewegen wie verirrte Schatten. Wie kann man so etwas auf der Klarinette hervorbringen?
Der Komponist Thorsten Encke liefert eine erstaunlich einfache Antwort auf diese Frage: Man braucht mehrere Klarinetten. Oder die hingehauchten Töne eines Akkordeons, die denen des Blasinstruments zum Verwechseln ähnlich klingen können. In den faszinierendsten Passagen seines neuen Konzertes, das Encke im Auftrag des NDR für Sharon Kam geschrieben hat, lässt er die Solistin mit einzelnen Stimmen aus dem Orchester so verschmelzen, dass kaum mehr auszumachen ist, wer gerade spielt. Die ruhige Einsamkeit, die gerade in diesen Momenten des sonst oft wild bewegten Stücks spürbar wird, ist tatsächlich Vielstimmigkeit.
Scharfkantige Rhythmen
Überhaupt hebt das Werk die klassische Trennung zwischen Solist und Begleitung vielerorts auf - und längst nicht immer geht es dabei harmonisch zu. Manchmal klingt es, als habe sich die Klarinettistin in einer Klangblase mitten im Orchester verfangen, aus der sie sich nur mit kampfsportartiger Melodik und scharfkantigen Rhythmen wieder befreien kann. Sharon Kam ist in solchen Kraftakten ebenso überzeugend wie in melancholischen Momenten. Völlige Freiheit kann sie sich aber nicht erobern: Der ganze souverän gestaltete Orchestersatz ist der Lebensraum, in dem sich die Solostimme mal mehr mal weniger frei bewegen kann. Encke hat sein Stück, das nun als Uraufführung zu erleben war, zu Recht „Konzert für Klarinette und Orchester“ genannt.
Beim Konzert im Funkhaus wurde es von zwei weiteren spektakulären Orchesterstücken eingerahmt. Der US-amerikanische Dirigent Joshua Weilerstein verbeugt sich zunächst vor der amerikanischen Tradition der Showkonzerte: Die Version der berühmten Toccata und Fuge d-Moll von Leopold Stokowski ist Bach fürs Kinozeitalter – ein bombastisch-nostalgischer Ausflug in die Klangwelt der Zwanzigerjahre. Zehn Jahre später hat der sonst so strenge Arnold Schönberg im kalifornischen Exil das g-Moll-Klavierquartett von Brahms in einen opulenten Orchesterkracher verwandelt.
In beiden Stücken findet Dirigent Weilerstein ein gut kalkuliertes Verhältnis von Zurückhaltung und Ektase, das auch in Enckes Konzert eine wichtige Rolle spielt. Ein starkes, klug zusammengestelltes Programm, der höchstens die Frage offenlässt, warum der NDR so selten neue Werke bestellt.
Am Donnerstag, 17. Januar, 20 Uhr, ist Geiger Christian Tetzlaff Solist bei der Radiophilharmonie. Auf dem Programm stehen Werke von Brahms und Vaughan Williams, Andrew Manze dirigiert.
Von Stefan Arndt