Sprengel Museum zeigt Ausstellung „100 Jahre Merz“
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Die Ausstellung „100 Jahre Merz“ ist jetzt im Sprengel Museum zu sehen.
© Quelle: Tim Schaarschmidt
Hannover. Für hundert Jahre darf man sich ruhig ein bisschen Zeit nehmen: Fast vier Monate lang wird die Ausstellung „100 Jahre Merz“ im hannoverschen Sprengel Museum zu sehen sein. Man sollte sie nicht versäumen. Und man sollte wiederkommen. „100 Jahre Merz “gehört zu den Ausstellungen, die man wiederholt besuchen kann, so viel gibt es in ihr zu sehen und zu entdecken. Für die beinahe 200 Werke haben die Kuratorinnen Isabel Schulz und Katrin Kolk in zehn Räumen des Hauses – einer davon gehört der Dauerinstallation des Merzbaus – eine bewundernswert schlüssige und ästhetisch ansprechende Choreografie rund um den Merz-Begriff entwickelt.
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Isabel Schulz (links) und Katrin Kolk haben die Ausstellung im Sprengel Museum kuratiert.
© Quelle: Tim Schaarschmidt
Das Wort Merz hat Kurt Schwitters vermutlich von Kommerz abgeleitet und 1919 als Bezeichnung für sein künstlerisches Schaffen eingeführt. Merz feiert, ebenso wie das Bauhaus, in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag. Das ist der eine Grund für die sehenswerte Schau. Der andere ist die Fertigstellung des vierten Bandes einer auf neun Bände angelegten Edition zum Werk des hannoverschen Künstlers mit dem Titel, "Kurt Schwitters. Die Reihe Merz 1923–1932". Eine wissenschaftliche Publikation, die in Kooperation des Sprengel Museums, der Bergischen Universität Wuppertal und des Trier Centers for Digital Humanities entstanden ist.
Die im Buchtitel genannte Reihe ist eine avantgardistische und multimediale Zeitschrift, die Schwitters unter dem Namen „Merz“ von 1923 bis 1932 herausgegeben hat. Sie steht im Zentrum der Ausstellung, deren Räume wichtige Sujets der Publikation verhandeln. In zehn Jahren sind von ihr insgesamt 17 Ausgaben erschienen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Schwitters hat sie nicht nur seinem eigenen Schaffen gewidmet, sondern auch dem von anderen Künstlern, darunter Hans Arp, Hannah Höch, El Lissitzky, Tristan Tzara und Käthe Steinitz.
Juwelen des Hauses
Schwitters hatte eine sehr großzügige Vorstellung von der Beschaffenheit seiner Merz-Reihe. Neben Heften zu unterschiedlichen künstlerischen Themen umfasst sie auch zwei Mappen mit Originalgrafik von ihm und Hans Arp – das sind selten präsentierte Juwelen des Hauses am Maschsee, die man mit hohem ästhetischem Genuss betrachtet. Überhaupt kommen fast alle Werke dieser Ausstellung bis auf wenige hochkarätige Leihgaben aus der eigenen Sammlung – was den Betrachter immer wieder über die vielen Schätze des zu großen Teilen im Sprengel-Depot verborgenen Schwitters-Kosmos staunen lässt. Unter den Schätzen befinden sich auch drei berührende Märchen, für die der Künstler die Texte schrieb und Käthe Steinitz die Illustrationen besorgte.
Geschickt setzte Schwitters seine Merz-Hefte auch zum erfolgreichen Netzwerken ein. Mit dem von ihm geschätzten russischen Konstruktivisten El Lissitzky gab er das großartige Doppelheft „Nasci“ zum Verhältnis von Kunst und Natur heraus. Dem Thema haben die beiden Kuratorinnen den größten und schönsten Raum der Ausstellung gewidmet mit wundervollen Werken von Fernand Léger, Pablo Picasso, George Braque, Max Ernst, Hans Arp und natürlich von Schwitters selbst. Ebenfalls nutzte der Künstler seine Reihe für die Veröffentlichung eines eigenen Ausstellungskatalogs und einer Schallplatte mit der „Ursonate“, seinem Meisterstück dadaistischer oder besser merzhafter Sprachzertrümmerung.
Avantgardist und Traditionalist
Sein Janusgesicht ist das Faszinierende an Schwitters. Er war Avantgardist und Traditionalist zugleich, gesegnet mit einer gestalterischen Kraft, die in alle möglichen Betätigungsfelder strömte. Er war ein Meister der künstlerischen Collage, in der die politischen und moralischen Erschütterungen seiner Zeit sichtbar werden, und ein Meister kommerzieller Bild- und Textgestaltung. Mit ihr überzeugte er mit Erfolg hannoversche Unternehmen wie die Firma Pelikan von seinen werblichen Fähigkeiten. Den 1887 in Hannover geborenen, von den Nazis aus Deutschland vertriebenen und 1948 im englischen Exil gestorbenen Künstler verspottete der dadaistische Schriftsteller Richard Huelsenbeck einmal als „Genie im Bratenrock“. Aber hinter seiner bürgerlichen Fassade war Kurt Schwitters stets ein leidenschaftlich unangepasster, ja anarchistischer Querdenker.
Wo hätte man je einen Bürger gesehen, der bei so genannten Dada-Soireen mit seinem holländischen Künstlerfreund Theo van Doesburg im gediegenen Zweireiher mit sorgfältig gebundener Krawatte das Publikum auf alle Vieren wie ein Hund anbellte? Der sich in seinem Haus im hannoverschen Waldhausen ein Refugium in Form einer labyrinthischen Grotte schuf – den heute berühmten Merzbau –, den er nicht ohne anzüglichen Hintersinn eine „Kathedrale des erotischen Elends“ nannte? Und der in einem inzwischen nicht weniger berühmten Gedicht von einer jungen Frau namens „Anna Blume“ als der Geliebten seiner „siebenundzwanzig Sinne“ schwärmte?
Kurt Schwitters hatte zusammen mit seinem Verleger die fabelhafte Idee, mit diesem Gedicht 1920 auf hannoverschen Litfaßsäulen für seinen gerade erschienenen Gedichtband zu werben. Um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit noch stärker auf ihn zu lenken, hatten sie eine Woche zuvor auf denselben Werbesäulen die biblischen zehn Gebote plakatieren lassen. Ein Schelm, wer Arges dabei denkt.
„100 Jahre Merz. Kurt Schwitters. Crossmedia“. Bis zum 6. Oktober im Sprengel Museum Hannover. Am 5. und 6. Juli wird ein internationales Symposium zu „100 Jahre Merz“ im Sprengel Museum veranstaltet, zugleich wird der vierte Band der Schwitters-Edition in Buchform und als frei zugängliche Onlineausgabe vorgestellt.
Von Michael Stoeber
HAZ