Kunstfestspiele Herrenhausen

Stargeiger Gidon Kremer spielt Weinberg – und kündigt Karriereende an

Ein Bogen wie ein Beil: Gidon Kremer beim Konzert in Herrenhausen.

Ein Bogen wie ein Beil: Gidon Kremer beim Konzert in Herrenhausen.

Hannover. Für vier wäre ja Platz. Mit vier Tönen könnte man den Erwartungsraum, der sich beim Hören der Musik von Mieczyslaw Weinberg auftut, mühelos möblieren. Aber da ist eben noch dieser eine zusätzliche Ton, der die praktische Vier in eine widerborstige Fünf verwandelt: Das schlichte Motiv wird durch die Quintole sperrig, abweisend und auch etwas aufgeblasen. So passt es erstaunlich gut zu dem Foto, das der Geiger Gidon Kremer bei seinem Auftritt in der ausverkauften Galerie dazu auf Bildschirmen an den Ecken der Bühne zeigt. Auf dem Bild sitzt ein Mann alleine auf einer Parkbank. Obwohl er nicht besonders groß oder dick ist, plustert er sich so auf, dass neben ihm kein bequemer Platz mehr frei bleibt: ein Mensch wie eine Quintole.

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Ein unbekannter, großer Komponist

Die Kombination von Fotos und Musik ist eines der Projekte, die Gidon Kremer in diesem Jahr dem Komponisten Weinberg widmet, der vor 100 Jahren in Polen geboren wurde. Der Vernichtung durch die Nazis, der seine gesamte Familie zum Opfer gefallen ist, entkommen, war Weinberg auch in Stalins Sowjetunion ein missliebiger Künstler, der beständig drangsaliert wurde. Seine plastische, oft sehr klar konstruierte Musik, die für Kremer zu dem Besten gehört, was im 20. Jahrhundert komponiert wurde, fand angesichts dieses Drucks kaum Gehör. Trotzdem ist sein Werk gewaltig: Es umfasst mehrere Opern – (seine wichtigste, "Die Passagierin" ist gerade in Braunschweig zu erleben) –, 21 Sinfonien und sehr viel Kammermusik.

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Kremer und Weinberg

In diesem Jahr beschäftigt sich Gidon Kremer ausführlich mit der Musik von Mieczyslaw Weinberg (1919–1996) – unter anderem auf zwei neuen CDs: Eine Einspielung der 24 Préludes, die er in Herrenhausen gespielt hat, ist beim Label Accentus Music erschienen. Kremers langjährige Plattenfirma Deutsche Grammophon hat gerade eine Einspielung der zweiten Sinfonie mit dem Kammerorchester Kremerata Baltica und der grandiosen 21. Sinfonie mit Kremer, dem City of Birmingham Symphony Orchestra und der Dirigentin Mirga Grazinyte-Tyla veröffentlicht.

Die 24 Préludes, die nun in Herrenhausen zu hören waren, hat Weinberg für Cello Solo komponiert. Kremer hat die Stücke für sein Instrument transkribiert und setzt sie nun in Bezug zu den Bildern des litauischen Fotografen Antanas Sutkus, der den Alltag seines Landes in den Sechzigerjahren in poetischen Szenen eingefangen hat. Die Bilder erinnern daran, dass auch Musik vom Leben erzählt – zumindest, wenn sie so intensiv gespielt wird, wie Kremer es tut.

Kunst als Selbstverbrennung

Am Vorabend des Konzertes, das die Kunstfestspiele Herrenhausen gemeinsam mit der Kammermusikgemeinde organisiert haben, hat der Geiger in einem Literarischen Salon Selbstauskunft gegeben und unter anderem verraten, welcher Künstler ihn besonders beeindruckt hat – Jacques Brel. „Wenn er gesungen hat, war das schon keine Kunst mehr – es war Selbstverbrennung“, schwärmt Kremer.

Selbstauskunft

Selbstauskunft: Gidon Kremer beim Literarischen Salon im Gespräch mit Moderator Jeff Brown.

Rücksichtsloser Einsatz war nun – nach einer etwas diffusen ersten Hälfte unter anderem mit dem frühen Klaviertrio von Chopin – auch im einstündigen zweiten Teil des Konzertes mit den Weinberg-Préludes zu erleben: Kremer benutzt den Bogen manchmal wie ein Beil, mit dem er brutal auf die Geige einschlägt – im allerletzten Moment aber verwandelt sich das gequälte Geräusch, das dabei entstehen müsste, doch noch in glühenden Klang. Dann wieder spielt er ungeheuer leise und fragil: Er erzeugt Töne aus Glas, durch die man hindurchsehen kann auf den Grund der Musik.

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Kremers letzte 100 Konzerte

Es ist zu ahnen, wie viel Kraft das den 72-jährigen Musiker kosten muss, der zuvor allerdings beteuerte, das Geigen würde ihm Kraft geben – lästig sei lediglich das ewige Reisen zu den Konzerten. Vor allem deswegen nimmt er nun wohl auch ein Ende seiner beispiellosen Karriere in den Blick: Rund 100 Konzerte werde er wohl nur noch spielen, kündigte er in Herrenhausen an.

Das erste der letzten 100 endet mit dem 24. Weinberg-Prélude sanft und durchdringend wie der stumme Sommerregen, der auf dem letzten Foto zu sehen ist. Danach tritt man hinaus und wundert sich, dass man nicht nass wird.

Am Wochenende spielt der Pianist Pierre-Laurent Aimard bei den Kunstfestspielen den umfangreichen „Catalogue d’Oiseaux“ von Olivier Messiaen in vier Konzerten: Sonnabend um 17, 20 und 23 Uhr, sowie Sonntag um 6 Uhr.

Von Stefan Arndt

HAZ

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