Warum Jörg Gollasch „Peer Gynt“ ohne Orchester vertont hat
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„Es gab keinen Plan B“: Komponist Jörg Gollasch komponierte im Eiltempo.
© Quelle: Uwe Janssen
Bad Hersfeld. Jörg Gollasch, geboren 1967 in Peine, ist Theater-, Hörspiel- und Filmkomponist. Er studierte Kulturwissenschaften in Hildesheim und arbeitete danach als Komponist und musikalischer Leiter am Deutschen Theater und an der Schaubühne in Berlin. Für die 68. Bad Hersfelder Festspiele war er mit der Musik für Dieter Wedels Schiller-Adaption „Karlos-Komplott“ beauftragt. Nach Wedels Rücktritt im Januar wurde er als Komponist für Robert Schusters „Peer Gynt“ berufen, mit dem die Festspiele am 6. Juli eröffnen.
Herr Gollasch, Sie haben die Musik zum Bad Hersfelder Festspielauftakt „Peer Gynt“ geschrieben – wieso eigentlich? Zu dem Stück gibt es doch schon Musiken.
Henrik Ibsen sagte damals, Edvard Griegs Musik könne er nicht benutzen, dazu könne man kein Theater mehr spielen, die erzähle schon alles. Für die Hersfelder Inszenierung von Robert Schuster, die eine sehr moderne ist, habe ich eine neue Musik geschaffen, aber mit Erinnerungsrückblicken auf Grieg und auf die Stilistik dieser Musik.
Ist Komponieren für Open-Air-Aufführungen anders als fürs Theater?
Es gibt unter freiem Himmel große szenische Momente, wo die Musik richtig aufblühen darf. Hier wird Musik dazu benutzt, einen Raum zu definieren. Bei Open-Airs gibt es zahllose Nebengeräusche: Man hört Autos vorbeifahren, man hört die Leute außerhalb des Spielortes reden, man hört Vögel zwitschern. Man muss als Komponist also mehr vorgeben, damit diese Geräuschkulisse nicht vom Wesentlichen ablenkt. Der Musiktheoretiker Diether de la Motte sagte mal, Oper sei für ihn der „breite Pinsel“. Und mit dem „male“ ich hier in Bad Hersfeld.
Wie zeitgemäß ist die Geschichte dieses Lügners und Träumers Gynt, der die Welt erobert und sich selbst verliert, denn heute noch?
Wir stellen im Stück Bezüge zum Internet her, das uns heute die Möglichkeit gibt, als jemand aufzutreten, der wir gar nicht sind. Nimmt man das alles weg – was bleibt dann noch übrig? Ibsen beantwortet diese Frage mit dem Zwiebelmonolog. Gynt ist auf der Suche nach sich, aber am Ende allen Sich-Schälens ist da kein Kern.
War der „Peer Gynt“ sowieso für Hersfeld geplant, oder wurde er erst ins Programm genommen, als Intendant Dieter Wedel ging und sein Schiller-Reboot „Karlos Komplott“ wegfiel?
Letzteres. Es gab ja tatsächlich vorher keinen Plan B.
Keine leichte Aufgabe ...
Robert Schuster musste innerhalb von zwei, drei Monaten seine Sichtweise der Geschichte finden, seine Fassung schreiben. Und er musste damit zurechtkommen, dass die Schauspieler ja für Wedels „Karlos-Komplott“ gecastet waren. Wie verteilt man die auf ein völlig anderes Stück? Robert hat’s geschafft, er hat ein unglaublich tolles Ensemble daraus geformt, die Stimmung ist gut, alle sind mit Volldampf dabei.
Wedels Rücktritt wegen früherer vermeintlicher Übergriffe und Schikane erfolgte auf halbem Weg zum Festival. War da erst mal die Moral flöten?
Kann ich nicht genau sagen. Ich war in Berlin und habe an meinen Sachen gearbeitet, habe die Zeitung aufgeschlagen und davon gelesen. Ich vermute aber schon, dass das erst mal zu totaler Hektik geführt hat. Ein Intendant leitet ja sehr intensiv auf allen Ebenen, da geht es dann auch auf allen Ebenen erst mal nicht weiter. Ich finde aber, dass man mit Joern Hinkel genau den richtigen Nachfolger gefunden hat. Der ist in die Materie hier in Hersfeld eingeweiht, hat einen ganz wunderbaren Führungsstil und macht das ganz großartig. Er war ja schon ganz lange Dieter Wedels rechte Hand in Worms.
Wie haben Sie selbst die Zusammenarbeit mit Dieter Wedel empfunden?
Er ist als Regisseur halt jemand, der sich einer Sache total verschreibt. Mein Eindruck ist, dass die Festspiele von ihm und seiner Intendanz unglaublich profitiert haben. Allein auf technischer Ebene war es ein Sprung von 30, 40 Jahren, der hier in den vergangenen vier Jahren gemacht wurde. Wedel hat wirklich alle Hebel in Bewegung gesetzt. Zu den Vorwürfen kann ich nichts sagen, die stammen aus einer Zeit, lange bevor ich mit ihm zusammengearbeitet habe.
Wie kamen Sie als Komponist mit der plötzlichen Änderung klar?
Das Problem mit „Peer Gynt“ war, dass Robert Schuster mit seiner Interpretationsarbeit zu einem Zeitpunkt angefangen hat, zu dem ich normalerweise die ersten Stücke schreibe. Ich habe trotzdem losgelegt, einiges war dann eben nicht benutzbar. Überhaupt wurden viele Entscheidungen, die sonst viel früher feststehen, erst auf der Probe getroffen. Die Fassung des Stücks wurde zwei Tage vor Probenbeginn fertig. Es war für alle Beteiligten das anderthalbfache Pensum.
Gibt es ein Orchester?
Wir haben uns aus Zeitgründen dagegen entschieden. Das ist zum einen schade, weil es natürlich toll ist, Musikern an der Hersfelder Ruine beim Live-Musizieren zuzusehen. Aber so konnte ich viel, viel schneller arbeiten. Ich denke mir was aus und produziere das am Computer mit meinen Instrumenten – ohne Übergabe an Musiker. Es ist ja doch sehr, sehr viel Musik im Stück.
Woran liegt das?
Beim Berliner Ensemble etwa ist die Bühne 15 Meter breit. Der Schauspieler ist binnen einer Sekunde vom Off an der Rampe. In Hersfeld sind es 60 Meter. Bis jemand in der Bühnenmitte ankommt, vergeht schon etwas Zeit. Da muss die Musik einen großen Schub verleihen.
Wie inspirieren Sie sich? Sinnieren Sie vor der Stiftsruine?
Diese Ruine ist überwältigend, wie der Kölner Dom ohne Dach. Man steht davor und fragt sich, wer hier wohl alles vor tausend Jahren gebetet hat. Wenn ich an die Musik für Bad Hersfeld denke, habe ich immer dieses Gebäude vor Augen. Ich arbeite nur hier so, wie ich gerade arbeite.
Filmmusik, Oper, Operette und Musical bekommen ihre Tonträger. Theatermusik nicht, die vergeht einfach. Ist das nicht frustrierend?
Jein. Ich mache ja auch Filmmusik und Hörspiel. Und es ist schon schön, wenn man dann ein Ergebnis in der Hand hat. Aber das ist ja auch das Tolle am Theater: In dem Moment, wo man drin ist, gibt es das, und ist das Stück aus dem Programm, gibt es das nicht mehr. Ich mache das jetzt seit 20 Jahren. Man gewöhnt sich an die Vergänglichkeit.
Von Matthias Halbig
HAZ