Dekadenz siegt: Satire über Superreiche bester europäischer Film
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/ZFQPRAFV65DTHA3G4ONRA7WVJE.jpeg)
Hat den Nerv der Europäischen Filmakademie getroffen: Harris Dickinson als Carl und Charlbi Dean als Yaya in einer Szene des Films „Triangle of Sadness“.
© Quelle: Fredrik Wenzel/Alamode/dpa
Das hat es auch noch nicht gegeben: Eine Präsidentin der Europäischen Kommission lässt sich beim Europäischen Filmpreis blicken – und das nicht etwa als Laudatorin, sondern als Preisträgerin. Ursula von der Leyen erhielt am Samstagabend im isländischen Reykjavík bei der 35. Gala die erstmals verliehene Trophäe für Nachhaltigkeit, mit der die Filmakademie den von der Kommission angeschobenen European Green Deal würdigte. Der Prix Film4Climate gilt dem immer wichtigeren Ringen um Klimaverträglichkeit auch in der Filmindustrie.
Vor 600 Gästen entrichtete von der Leyen per vorab aufgezeichnetem Video ihre Botschaft: „Wir alle müssen handeln für unser Klima.“ Die Politik könne nur Ziele vorgeben, handeln müsse jeder Einzelne. Drei Jugendliche aus Rumänien, Schweden und Island verkündeten die Entscheidung auf der Bühne. Auf kargem isländischen Boden soll nun ein Baum gepflanzt werden im Namen der Kommission.
Schon diese Auszeichnung zeigt, was die knapp 4500-köpfige Europäische Filmakademie von ihrer weitaus größeren und viel älteren Oscarvereinigung in den USA unterscheidet: Politische Stellungnahmen, gerade in Krisenzeiten wie diesen, werden hier ebenso wichtig genommen wie der Preisregen für die schwedische Satire „Triangle of Sadness“.
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von YouTube, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.
Was an Starglanz auf dem roten Teppich fehlt (einige Nominierte waren gar nicht erst angereist), wird wettgemacht durch klare Positionierungen. Nicht zufällig ging der Koproduzentenpreis an die Gesamtheit der ukrainischen Filmproduzenten und Filmproduzentinnen. Einige berichteten stellvertretend auf der Bühne von ihrem Kampf für europäische Werte in ihrer kriegsversehrten Heimat. Manche sind unter schwierigsten Bedingungen mit der Kamera in der Hand unterwegs, andere mit einer Waffe.
Der Preis für den besten Dokumentarfilm an den litauischen Regisseur Mantas Kvedaravicius erinnerte auf traurig Weise daran: Er wurde beim Drehen von „Mariupolis 2″ über den Alltag in der bombardierten ukrainischen Stadt Mariupol von russischen Soldaten erschossen. Seine Tochter nahm die Würdigung entgegen.
Schiffbruch mit der Luxusjacht
Der große Sieger des Abends aber war Ruben Östlunds deftige Kapitalismussatire „Triangle of Sadness“ über die Dekadenz der Superreichen, ausgezeichnet schon in Cannes mit der Goldenen Palme. Der schwedische Regisseur räumte die wichtigsten Trophäen ab, jene für Drehbuch, Regie, besten europäischen Film 2022. Obendrauf gab es den Darstellerpreis für Zlatko Burić.
Die Kreuzfahrt auf einer Luxusjacht endet in „Triangle of Sadness“ mit einem Schiffbruch. Auf einer einsamen Insel verkehren sich die gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Putzfrau, kundig sowohl im Feuermachen wie im Oktopusfang, übernimmt das Kommando, und die eben noch herrschende Klasse muss umgekehrt ihr zu Diensten sein. Ob sich in dieser Preisballung bei ansehnlicher Konkurrenz - darunter der Berlinale-Siegerfilm „Alcarràs“ sowie das iranische Frauenmörderdrama „Holy Spider“ - auch Unmut über sie sich immer weiter öffnende Schere zwischen Reich und Arm ausdrückt?
Für die für ihr Lebenswerk ausgezeichnete Margarethe von Trotta erhob sich das Publikum von den Sitzen. Die mit ihren Frauenporträts bekannt gewordene deutsche Regisseurin („Rosa Luxemburg“, „Hannah Arendt“, demnächst folgt ein Film über Ingeborg Bachmann) wies darauf hin, dass sie erst die dritte Frau sei, der diese Ehre zuteil wurde. „Aber ich glaube, die Zeit der Frauen hat gerade erst begonnen“, so die Achtzigjährige.
Damit schloss sie sich in gewisser Weise den Worten von Vicky Krieps an, die als beste Darstellerin im ungewöhnlichen Kaiserin-Sisi-Drama „Corsage“ geehrt wurde: „Ich möchte dies allen Frauen auf der ganzen Welt widmen, die gesehen und gehört werden müssen, die sich befreien und von diesen tiefen, tiefen Wunden heilen müssen, die wir seit Generationen tragen.“ Sie müssten heilen, damit Männer und Frauen wieder zusammenkommen könnten“, sagte Krieps. Die ebenfalls nominierte Comedienne Meltem Kaptan aus Köln ging mit „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ leer aus.
Der mit viel isländischer Ironie gestaltete, aber zu lang geratene Abend warf einen erhellenden Blick auf den Reichtum und die Vielfalt des europäischen Kinos, das gerade einen schweren Stand hat. Das war zwar nicht so viel anders, als die Europäische Filmakademie 1988 in Berlin gegründet wurde, aber nun ist die Situation existenzbedrohend.
Das Publikum ist nach der Corona-Pandemie (noch) nicht wieder in die Kinosäle zurückgekehrt, das Hilfsgeld aber versiegt. Und wenn die Zuschauerinnen und Zuschauer doch im dunklen Saal Platz nehmen, dann stehen Hollywoodfilme ganz oben auf der Beliebtheitsliste.
Als Werbeveranstaltung hatte die Filmakademie einen Monat für den europäischen Film ausgerufen. Kinos in 35 Ländern, auch deutsche, beteiligten sich daran, um die oft ungesehenen Werke der Nachbarn zu würdigen. Beim Filmpreissieger „Triangle of Sadness“ war das nicht nötig: Die Survival-Satire läuft hierzulande schon seit einigen Wochen erfolgreich im regulären Kinoprogramm.