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Gerichtsurteil

150.000 Euro Schmerzensgeld für Koma-Patienten

„Der Patient hätte unter permanenter ärztlicher Kontrolle stehen müssen“: Lkw-Fahrer Ralf Nettler liegt nach einem Behandlungsfehler seit mehr als vier Jahren im Wachkoma.

„Der Patient hätte unter permanenter ärztlicher Kontrolle stehen müssen“: Lkw-Fahrer Ralf Nettler liegt nach einem Behandlungsfehler seit mehr als vier Jahren im Wachkoma.

Hannover. Seit mehr als vier Jahren liegt Ralf Nettler im Wachkoma. Der Langenhagener war Silvester 2008 mit starken Halsschmerzen und Atembeschwerden in die Notaufnahme des Nordstadtkrankenhauses gefahren. Doch als seine Atmung dort aufgrund einer akuten Kehldeckelentzündung aussetzte und kein Arzt in der Nähe war, blieb sein Gehirn mehrere Minuten ohne Sauerstoff - mit schrecklichen Folgen für ihn und seine Familie.

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Das Oberlandesgericht (OLG) Celle hat jetzt ein Urteil des Landgerichts Hannover aus dem März 2012 bestätigt: Das Klinikum Region Hannover (KRH), zu dem das Nordstadtkrankenhaus gehört, muss der Familie 150.000 Euro Schmerzensgeld zahlen. Noch viel schwerer in finanzieller Hinsicht dürfte wiegen, dass der Klinikverbund auch die Behandlungskosten von Nettler auf Lebenszeit tragen muss - was in die Millionen gehen kann.

Am Silvestermorgen 2008 war der damals 42 Jahre alte Ralf Nettler mit seiner Frau ins Nordstadtkrankenhaus gefahren, weil er kaum noch Luft bekam. Auf dem Gelände brach er zusammen, wurde in die Notaufnahme getragen, kam wieder zu sich. Dann folgte, so die späteren Ermittlungsergebnisse, der entscheidende Fehler: Nach einer ersten Untersuchung und kurzzeitiger Überwachung verlegte man den Lkw-Fahrer nicht auf die Intensiv-Therapiestation, sondern nur auf die Intensiv-Überwachungsstation. Als dann kurze Zeit später seine Atmung aussetzte, wurde das Pflegepersonal zwar durch das laute Piepen einer Überwachungsapparatur alarmiert. Bis dann allerdings der zuständige Arzt verständigt war und, einige Stationen entfernt aufgebrochen, am Bett des Patienten eintraf, vergingen mehrere Minuten - überaus kostbare Minuten. Die künstliche Beatmung über einen Schlauch wurde zu spät eingeleitet, die minutenlange Zeit ohne Sauerstoffzufuhr reichte aus, um die Großhirnrinde von Nettler irreversibel zu schädigen.

Das Nordstadtkrankenhaus berief sich später auf einen schicksalhaften Verlauf der Erkrankung, dessen schwer wiegende Folgen nicht absehbar gewesen seien. Doch sowohl der Medizinische Dienst der Krankenversicherung als auch ein später vom Gericht bestellter Sachverständiger kamen zu einem anderen Ergebnis. Es sei bekannt, dass eine Kehldeckelentzündung, die bakteriell bedingt ist, zu einem Luftröhrenverschluss und Atemstillstand führen könne und damit lebensbedrohlich sei, erklärte Prof. Christoph Matthias. Der Leiter der HNO-Uniklinik in Göttingen trug seine Expertise vor Land- und Oberlandesgericht vor. „Demnach war klar, dass der Patient unter permanenter ärztlicher Kontrolle hätte stehen müssen“, sagte Ulrich Hamann, Vorsitzender Richter des 1. Zivilsenats am OLG Celle. Eine Rufbereitschaft habe nicht ausgereicht, und dieses Versäumnis sei als schwerer Behandlungsfehler zu werten. „Dabei war das Ehepaar extra ins Nordstadtkrankenhaus gefahren, weil es in der dortigen HNO-Klinik eine besonders fachgerechte Behandlung erwartet hat“, erläutert Patientenanwalt Michael Keulemann, der die Prozesse für die Nettlers durchgefochten hat.

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Der Wachkoma-Patient ist jetzt in einem speziellen Pflegeheim in Hannover untergebracht. Er muss beatmet werden, wird künstlich ernährt, bekommt Physio- und Ergotherapie. „Ich versuche immer, mit den Augen Kontakt zu meinem Mann aufzunehmen“, erzählt Ehefrau Jutta Nettler. Doch nachweisbare Erfolge seien noch nicht zu verzeichnen. Neben ihrer Arbeit besucht sie ihren Gatten jeden Nachmittag im Pflegeheim: „Mein eigenes Leben findet ohne mich statt.“ Sehr froh ist sie, dass sich ihre Schwiegermutter ebenfalls aufopfernd um den Patienten kümmert: „Das macht es mir um einiges leichter.“

Entschuldigt habe sich kein Arzt bei ihr, aber Groll hege sie deswegen nicht. Sie hoffe aber, dass die Haftpflichtversicherung des Klinikums das Schmerzensgeld bald auszahlt. Sie will es verwenden, um ihrem Mann sein eingeschränktes Leben noch irgendwie zu erleichtern - beispielsweise, um ihm Therapien zu ermöglichen, für die die Krankenkasse nicht aufkommt.

HAZ

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