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Familienunternehmen

Bahlsen wird 120 Jahre alt

Alles war bis ins Detail geplant. Ein eigener Stadtteil sollte es werden, mehr noch: eine eigene Stadt. Mit einer mächtigen Fabrik, mit Häusern für die Arbeiter, mit Kirche, Schulen, Theater, Prachtstraße, einer Säule und zu ihren Füßen zwei Löwen. „Tet-Stadt“ sollte sie heißen, nach jener ägyptischen Hieroglyphe, die die Keksverpackungen zierte und „ewig während“ bedeutete. Doch genauso gut hätte sie Bahlsen-Stadt heißen können.

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Die Pläne für jenes Quartier, das Hermann Bahlsen 1917 an der Grenze von List und Buchholz errichten lassen wollte, wurden nie verwirklicht. Zu deutlich waren die Folgen des Weltkriegs bald auch in Hannover zu spüren, als dass sich noch jemand mit hochfahrenden Visionen einer Stadt der Zukunft hätte beschäftigen wollen. Geblieben sind nur ein paar Gipsmodelle. Wahrscheinlich zeugte der Traum von der „Tet-Stadt“ auch damals längst von der Selbstüberschätzung des aufstrebenden Fabrikanten (jedenfalls stießen die Pläne des Architekten Bernhard Hoetger auf der Frühjahrsausstellung des Kunstvereines durchaus auf viel Skepsis).

Zugleich jedoch erzählt dieser Traum davon, dass es in der Geschichte von Bahlsen, die am 1. Juli vor 120 Jahren begann, früh schon um mehr ging als um Kekse und Kuchen. Bahlsen fertigte nicht nur Gebäck, sondern zugleich Symbole. Es ist insofern konsequent, dass sich Hermann Bahlsen feierlich die Konditorenkleidung anzog und die Tür hinter sich schloss, bevor er den Teig für seine Kreation namens Leibniz-Keks anrührte – etwas Lapidares statt eines solch würdevollen Aktes hätte nicht gepasst. Es war, von heute betrachtet, keineswegs ein spektakuläres Geschmackserlebnis, das Bahlsen da schuf. Und doch überdauerte sein Werk die Zeiten, wurde zum Inbegriff von Keks, zum Begleitgebäck des Wirtschaftswunders, zum unverzichtbaren Bestandteil von ungezählten Klassenausflügen und Radtouren. Kaum anders ist es mit weiteren Kreationen. Russisch Brot, dieses dunkle, knusprige Buchstabengebäck, gibt es seit 1906 – nicht wenige, die damit als Kinder ihre ersten Wörter legten, noch bevor sie sie von Hand schreiben konnten. „Ohne Gleichen“, die mit Schokolade überzogenen Waffeln, kamen im Januar des Jahres 1900 auf den Markt. Die Waffeln „Noch eine“, fast schon das Erkennungszeichen eines Eisbechers, produziert Bahlsen seit 1906.

Es sind jedoch nicht nur die Produkte, denen Bahlsen seine Bedeutung verdankt. So war Firmengründer Hermann Bahlsen nicht nur Keks-, sondern auch Wortschöpfer. Dass er sein Unternehmen „Hannoversche Cakesfabrik H. Bahlsen“ nannte, dass er also den englischen Begriff „Cakes“ verwandte, hatte mit seinen langen Aufenthalten in London zu tun – und damit, dass es keine passende Übersetzung gab. 1911 prägte er deshalb den Begriff „Keks“. Der Redaktion des Duden war dieses Lehnwort ein Ärgernis, sogar einen Wettbewerb schrieb man aus, um einen deutschen Begriff zu finden. Bahlsen und seine Idee waren jedoch mächtiger. Der „Keks“ setzte sich durch. Stilbildend war Bahlsen auch noch in etwas anderem: seinem Verhältnis zur Kunst. Die Unternehmer und die Künstler, das wurde im 20. Jahrhundert ein wichtiges Kapitel, und Hermann Bahlsen stand mit am Anfang. Er förderte junge und ältere Künstler, unbekannte wie umstrittene, aus Kalkül wie aus Liebhaberei. Paula Modersohn-Becker, Ernst Barlach, Emil Nolde und Karl Schmidt-Rottluff, von ihnen allen kaufte er Werke. Modersohn-Becker und Barlach zum Beispiel arbeiteten jahrelang für Bahlsen, sie halfen auch bei der Dekoration des Hauptgebäudes, jenes 1911 bezogenen (und seit 2000 wieder als Hauptsitz genutzten) Gebäudes nahe dem Lister Platz, das mit seiner Jugendstil-Fassade selbst künstlerischen und zeittypischen Rang beansprucht. Die Kunst wurde zum festen Element des Baus wie auch der Marke.

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Die Geschäfte liefen gut, Bahlsen konnte sich das Engagement leisten. Beschäftigte Bahlsen zu Beginn, im Jahre 1889, zehn Mitarbeiter, so waren es 1914 schon 1700. Die Kriege waren Einschnitte, von denen sich das Unternehmen jedoch vergleichsweise rasch erholte – 1951 zählte man bereits 2200 Beschäftigte.

Nach so vielen Leibniz- und anderen Keksen verlangten die Menschen, dass Bahlsen kaum etwas anderes übrig blieb, als auch in Sachen Automatisierung wegweisend zu werden. 1905 wird am Lister Platz für die Verpackung der Leibniz-Cakes das erste Fließband Europas eingesetzt. Von 1912 an nennt sich das Unternehmen „Fabrik“ – eine Bezeichnung, die 1957 durch die Eröffnung des Werkes in Barsinghausen noch einmal eine ganz neue Berechtigung erhält. Bis zu 60.000 Tonnen Kekse können dort pro Jahr produziert werden. Es gibt Knetmaschinen, die bis zu 500 Kilogramm Teig auf einmal verarbeiten, die Butter wird in Rollcontainern an die Maschinen geschoben und Schokolade in Tankwagen flüssig ins Werk geliefert.

Vielleicht ist Bahlsen heute ein bisschen weniger stilbildend als früher – vielleicht auch, weil es heute, in Zeiten enormer wirtschaftlicher Beschleunigung, viel schwieriger geworden ist, Klassiker zu schaffen, die zu kollektiven Geschmackserinnerungen ganzer Generationen werden. So sind es heute eher die allgemeinen Entwicklungen, die sich in der Bahlsen-Geschichte spiegeln. Zum Beispiel die Globalisierung: Bahlsen exportiert seine Waren in 68 Länder, von Ägypten über China bis Zypern, und besitzt Werke unter anderem in Polen und Frankreich. Bahlsen bekam die Schwierigkeiten zu spüren, die sich ergeben, wenn sich die Familienmitglieder eines Familienunternehmens nicht mehr ganz so großartig verstehen: Vor zehn Jahren trennten die Bahlsens ihr Unternehmen in die Bereiche Süßes, Snacks und Immobilien. Aber dafür kann Bahlsen jetzt vielleicht auch wieder von jenen Stärken profitieren, die Familienunternehmen seit jeher nachgesagt werden.

In der gegenwärtigen Krise, meinte Chef Werner M. Bahlsen zuletzt, liege für Bahlsen möglicherweise sogar eine Chance: „In Zeiten der Unsicherheit greift der Konsument verstärkt auf Marken zurück, bei denen er weiß, was er hat“, glaubt er. Beweisen könnte sich das schon im September, dann bringt Bahlsen etwas N eues auf den Markt: „Exquisit“, ein edles Gebäck in drei Varianten. Ein Erfolg wäre für das Unternehmen ein wichtiges Zeichen – Pläne für eine neue Stadt wird das Unternehmen aber auch bei bestem Verlauf demnächst nicht präsentieren.

HAZ

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