Darum ist die Integration so schwierig
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/6KLP44MRR4HTOA7EWWYBTLUWII.jpg)
„Es gibt Tausende gut ausgebildete Deutschtürkinnen wie mich“: Hatice Flörchinger auf dem Sofa in ihrer Lister Wohnung. Foto: Kutter
© Quelle: Katrin Kutter
Hannover. Vermutlich war das Beispiel der Mutter der Hauptantrieb für das eigene Leben. Hatice Flörchinger wollte nie sein wie sie: fremdbestimmt, abhängig von Vätern, Ehemännern, Söhnen. Mit zehn Jahren zieht das türkische Mädchen vom Dorf in die nahe Großstadt, in die Millionenstadt Denizli. Ein technisches Gymnasium absolviert sie dort, wird Elektrotechnikerin. „Ich war immer ein bisschen rebellisch“, sagt die heute 63-Jährige über ihre Leidenschaft für einen Männerberuf und schenkt in ihrer Wohnung in der List etwas türkischen Tee nach.
Wie konsequent die Deutschtürkin ihren ungewöhnlichen Weg geht, zeigt sich auch später. 1973 folgt sie dem Vater, einem Schweißer in einer Aluminiumfabrik, nach Deutschland. Beider Wege trennen sich schnell, die Brüder bleiben in der Türkei. Selbst als ihr Diplom nicht anerkannt wird und sie nach einer Umschulung keinen Job findet, gibt sie nicht auf. Flörchinger findet eher zufällig eine Anstellung im Sozialbereich, studiert Sozialpädagogik. Am Ende ist sie in Hannover 25 Jahre für die Arbeiterwohlfahrt (AWO) tätig.
Hatice Flörchinger hat geschafft, woran viele Deutschtürken, die beim Referendum zur Verfassungsreform mit „Ja“ gestimmt haben, offenbar gescheitert sind: Sie ist integriert. Aber: Für wie viele Landsleute gilt das? Sind zum Beispiel selbstbestimmte, türkische Frauen in Deutschland die Regel oder doch die Ausnahme?
Biografien sind sehr verschieden
„Es gibt Tausende gut ausgebildete Deutschtürkinnen wie mich“, sagt die Frau, die als Gastarbeiterin der ersten Stunde einen guten Überblick hat. Türkische Migranten hätten so verschiedene Biografien: „Manche kommen aus der Stadt, andere aus dem Dorf, manche aus dem Osten, andere aus dem Westen, manche sind religiös, andere nicht.“ Es gebe viele integrierte Deutschtürken, viele Landsleute hätten es mittlerweile in leitende Positionen geschafft. Trotzdem hielten viele Deutsche an Vorurteilen über Türken fest. „Nehmen Sie nur Sarrazin“, sagt Flörchinger. Der ehemalige Berliner Finanzsenator hatte mit Sprüchen wie dem, dass die Türken den deutschen Staat ablehnten, obwohl sie von ihm lebten, und überdies ständig neue Kopftuchmädchen produzierten, immer wieder provoziert.
Hatice Flörchinger weiß, wovon sie spricht. Viele Jahre hat sie für das Beratungszentrum für Integration und Migrationsfragen Hannover gearbeitet, Referate über die Frau im Islam gehalten, Alphabetisierungskurse für Frauen, Projekte mit türkischen Mädchen gemacht. Die Arbeitslosigkeit unter den Türken sei viel höher als unter Deutschen - auch weil Unternehmer bei ausländischen Namen immer noch zurückschreckten, sagt Flörchinger. „Und das, obwohl es mittlerweile die anonyme Bewerbung gibt.“ Dennoch gelte in vielen Betrieben: „Als Erstes kommen Deutsche, dann die EU, dann die anderen Ausländer.“ Wie Türken in Deutschland behandelt würden, zeigten auch Behördentexte: Obwohl Türkisch hierzulande eine so oft gesprochene Sprache sei, würden amtliche Schriftstücke häufig zuerst ins Englische, Französische, Spanische übersetzt.
Es gibt aber auch eine andere Seite der Wahrheit. Wer mit Erziehern oder Lehrern in Hannover spricht, hört nicht nur von den vielen türkischen Kindern, die das deutsche Bildungssystem problemlos passieren. Es ist auch die Rede von Kitas, in denen wegen Konflikten mit streng religiösen Familien kaum Schweinefleisch gegessen wird. Es gibt Einrichtungen, die mit Kindern arbeiten und auf Unverständnis bei türkischen Familien stoßen, wenn sie Halal-Fleisch, also nach bestimmten islamischen Riten geschlachtetes Fleisch, von der Speisekarte nehmen. Manche Einrichtungen kommen mit türkischen Müttern muslimischen Glaubens nur in Kontakt, wenn sie Frauennachmittage veranstalten, bei denen getanzt, gebacken oder gebastelt wird - da erlaubten Ehemänner ihnen die Teilnahme. Ergotherapeuten stöhnen über kleine türkische Machos, die sich in der Grundschule nicht zurechtfinden. In traditionellen türkischen Familien werden gerade Jungen bis zum Schuleintritt oft kaum Grenzen gesetzt. „Wenn so ein kleiner Pascha ein Spielzeugauto nicht herausrücken will, wird die Mutter eher versuchen, es uns hinter seinem Rücken abzukaufen, als ihm zu sagen, dass er es nicht haben darf“, sagt eine Erzieherin. „Es bleibt uns überlassen, für klare Regeln zu sorgen.“ Der Kriminologe Christian Pfeiffer stellte in einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen 2010 sogar eine Verbindung zwischen der Gewaltbereitschaft türkischer Jugendlicher und der „Machokultur“ in ihren Familien her.
Neue Elterngeneration
Wenn das Thema Sexualität ansteht - bei Elternabenden in der Kita oder im Fach Sexualkunde in der Grundschule -, berichten Pädagogen über Schwierigkeiten. Auch beim Schwimmen gibt es Probleme. Erst Ende 2016 war eine muslimische Schülerin aus Hessen mit einer Bundesverfassungsbeschwerde gescheitert, sich aus religiösen Gründen vom Schwimmunterricht von Jungen und Mädchen befreien zu lassen. Das Mädchen hatte als Fünftklässlerin im Schuljahr 2011/2012 eine Sechs kassiert, weil sie nicht einmal im Ganzkörperbadeanzug, einem „Burkini“, teilnehmen wollte. Sie war allerdings Marokkanerin.
Allerdings: Es ist offenbar häufig die Religion, nicht die Nationalität, die Abschottung auslöst. Und: Der Kreis derer, die für Lehrer und Pädagogen unerreichbar sind, scheint kleiner geworden zu sein. Es sei selten geworden, dass nur türkische Väter, nicht aber Mütter zu Elternabenden gingen, betont auch Hatice Flörchinger. Oft gingen heute beide: „Es gibt eine neue Generation türkischer Eltern.“ Die 63-Jährige hofft, dass das Referendum den Blick dafür schärft, was bei der Integration der Türken schiefgelaufen ist. Ihren Traum von „Multikulti“ hat sie schon vor langer Zeit „live“ erlebt. Als sie in Denizli aufs Gymnasium ging, erzählt sie, hätten sich unter einem mächtigen Baum auf dem Hof nahe ihrer Wohnung nachmittags Türken, Kurden, Tscherkessen, Armenier und Deutsche getroffen. „Keiner hat gefragt, woher kommst du“, sagt sie: „Man trank einfach den Fünf-Uhr-Tee.“
In Hannover lebten nach Angaben der Stadt Ende 2016 insgesamt 25 619 Türken und Deutsche mit türkischem Migrationshintergrund. 13065 von ihnen waren Männer fast ebenso viele, nämlich 12554, waren Frauen. Die meisten Türken und Deutsche mit türkischem Migrationshintergrund, nämlich 1700 Personen, leben derzeit in Stöcken. Hier machten sie Ende 2016 mit 13,1 Prozent der Stadtteilbevölkerung aus. Die zweitgrößte türkische Community fand sich Ende 2016 mit 12,7 Prozent (1265 Personen) in Vahrenheide. Die wenigsten Türken und Deutschtürken finden man seit vielen Jahren im Zooviertel und in Isernhagen-Süd. Dort pendelte die Zahl zwischen Ende 2006 und Ende 2016 zwischen 0,4 und 0,7 Prozent. In beiden Stadtteilen lebten zwischen 15 (Isernhagen-Süd, 2011) und 34 (Zoo, Ende 2016) Türken und Deutsche mit türkischem Migrationshintergrund. jrIn Stöcken leben derzeit die meisten Türken
HAZ