Deine Stadt braucht Farbe
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"Wall of Fame" statt Bauzaun: Cora und Viktoria präsentieren ihre auf Holz gesprühten Musiker-Stencils.
© Quelle: Körner
Es ist ein inniger Kuss, den sich die beiden englischen Polizisten geben. Die Szene ist skurril, denn von der Autorität und Männlichkeit der Ordnungshüter ist nicht viel übrig. Wahrscheinlich hat sich dieser Moment nirgends so zugetragen. Der Street-Art-Künstler Banksy hat die beiden „Bobbys“ 2004 trotzdem an der Wand eines Pubs in Brighton verewigt. Denn Banksy provoziert mit seinen Schablonen-Graffiti: Sie zeigen kleine Mädchen, die Bomben umarmen, oder maskierte Demonstranten, die Blumensträuße statt Steinen schmeißen.
Banksy gehört zu den bekanntesten Street-Art-Künstlern der Welt. Und hat in vielen Städten inzwischen Nachahmer. Doch was ist eigentlich Street-Art? Mit dieser Frage beschäftigten sich zehn Jugendliche beim Workshop „Wem gehört die Stadt?“ in Zusammenarbeit mit dem historischen Museum.
Für Jan Lotz ist die Antwort klar: „Street-Art ist für mich Kunst im öffentlichen Raum. Sie muss für jeden zugänglich und sichtbar sein.“ Mit einem Skalpell schneidet der 16-jährige Schüler durch mehrere Schichten Paketklebeband, die er auf eine Plexiglasscheibe geklebt hat. Die Arbeit sieht mühsam aus, doch nach fünf Stunden Frickelei ist auf der Scheibe deutlich die Kontur eines jungen Mannes mit Brille zu sehen. Tape-Art nennt sich dieses Genre der Straßenkunst. Vier weitere Scheiben hat Jan mit Klebeband bearbeitet und ist jetzt kurz davor, sie an Straßenlaternen in der Altstadt zu montieren. Wenn die Lampen angehen, kann man aus einiger Entfernung die Umrisse der Figuren sehen. Wiedererkennen wird man die Menschen wahrscheinlich nur, wenn man Stammgast in der Kneipe „Barfuß“ ist. „Ich will Menschen zeigen, die regelmäßig in dieser Straße unterwegs sind – echte Hannoveraner.“ Seit Sonntag sind auf den Laternen der Burgstraße der Wirt, die Thekenkräfte und Gäste der Kneipe zu sehen, und nicht etwa hannoversche Prominente wie Lena Meyer-Landrut oder der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff.
Eine Straße weiter streiten sich Cora Jurek und Viktoria Steinmüller über Musikgeschichte: Von Mozart über den Sex-Pistols-Bassisten Sid Vicious bis Madonna haben die beiden 17-Jährigen Porträts von Musikgrößen auf Holzleinwände gezeichnet. Jetzt geht es darum, sie in richtiger Reihenfolge an einem Bauzaun gegenüber des Museums aufzuhängen. An welche Stelle gehört bloß Bob Dylan? Der Bauzaun erinnert etwas an das Jugendzimmer eines Musikfans. Entlang der Leine haben zwei weitere Teilnehmer einen Parcours mit verschiedenen Aufgaben und Spielen aufgebaut. Am Ufer kann man zum Beispiel kleine Papierboote in den Fluss setzen. Ab Sonnabend wird auf einer Treppe am Rathaus ein Einhorn mit einem bunten Regenbogen im Rücken zu sehen sein. Das ist ein weiteres Projekt des Workshops.
Die Werke der Jugendlichen bringen Farbe in die Altstadt. Provokation oder utopische Motive, wie sie Banksy oft zum Ausdruck bringt, haben die Jugendlichen nicht. Voraussetzung für den Workshop ist natürlich, dass alles legal passiert. Jan hat für seine Tape-Art mit dem Stromversorger enercity verhandelt, auch für den Bauzaun musste eine Genehmigung eingeholt werden. So brav sind nicht alle Straßenkünstler. Der unbekannte Sprayer, der in Hannover und anderen Städten Hunderte seiner „Moses“-Graffiti hinterlässt, die Macher der roten Holzkirschen, die an Bäumen und Hauswänden zu sehen sind, oder Banksy stellen schließlich auch keinen Antrag bei der Stadtverwaltung.
Ute Maasberg von der Architektenkammer Niedersachsen leitet den Workshop zusammen mit dem Historischen Museum. „Junge Leute sollen lernen, dass sie mitbestimmen können, wie ihre Stadt aussieht“, sagt sie. Straßenkunst hat, seit Aufstellung von Niki de Saint Phalles „Nanas“ vor knapp 40 Jahren, eine lange Tradition in Hannover. Das versucht Maasberg an Schulen oder Workshops zu vermitteln. „Wir haben viel mit der Stadt gesprochen. Eigentlich ist es nicht schwer, eine Einigung zu erzielen, um Kunst im öffentlichen Raum machen zu dürfen. Man muss nur den Dialog suchen.“
Dass nicht jeder Künstler Street-Art auf legale Weise betreibt, ist Jan genauso bewusst wie die enorme Spannweite der Straßenkunst: Ein Graffito von Moses gehört für ihn genauso dazu, wie ein Bild von Banksy. Oder Arbeiten, die von der Stadt in Auftrag gegeben wurden, wie eben die „Nanas“. Steet-Art ist, was jedem Bürger zugänglich ist. Selbst illegal will Jan jedoch nicht arbeiten. Das Projekt bietet den Jugendlichen die Möglichkeit, kreativ das Stadtbild mitzugestalten. Wenn auch nur wenig subversiv: Coras und Viktorias Musiker-Stencils kann man so ähnlich auch kaufen. Und mit Sid Vicious kann man inzwischen auch niemanden mehr schockieren.
Von Manuel Behrens
Ein Atlas für Street-Art aus Hannover
Wo ist der beste Kiosk in meiner Nähe? Und seit wann ist das Straßenschild eigentlich behäkelt? Die Welt soll es erfahren! Für alle Lieblingsorte in der Stadt gibt es jetzt eine „Lieblingsortekarte“. Unter www.hannoverliebe.de/lieblingsorte kann man seine Sicht auf Kunst, Kioske oder Bücherschränke hochladen und vernetzten. Ob frisch zugezogen oder tief verwurzelt – hier finden sich Fundstücke für alle aus der Stadt, die Hannover nicht nur entdecken, sondern auch selbst aktiv mitgestalten wollen. Von den bekannten Nanas bis hin zu temporärer Street-Art können Fotos, Videos und Kommentare auf der „Lieblingsortekarte“ hochgeladen werden. Das Projekt gibt es seit einem Jahr. Es soll so etwas wie das digitale Gedächtnis der Stadt sein, sagt Thimm Bubbel, von „hannoverliebe“. „Wir wollen Dinge sichtbar machen, die man sonst erst auf den zweiten Blick sieht“, sagt Bubbel. Per E-Mail, Facebook, Twitter und Google Plus sind alle Hannover-Enthusiasten dazu aufgerufen, sich an der Karte zu beteiligen.saw
Street-Art in Hannover
Die erste große Diskussion um Kunst im öffentlichen Raum lösten die von der französischen Künstlerin Niki de Saint Phalle gespendeten Nanas aus. Die Plastiken wurden 1974 am Leineufer aufgestellt und lösten wochenlange Proteststürme aus. Während sie für viele Bürger willkommene Farbtupfer in einer sonst viel zu grauen Stadt waren, sahen konservativere Mitbürger in ihnen nur „ordinäre Sexparodien“.
Kontroversen gab es auch um die Street-art-Kirschen. In der ganzen Stadt wurden groß, auf Holz gemalte Kirschen aufgehängt und teilweise auch an Bäume genagelt. Die Nägel würdendie Bäume beschädigen, erklärte die Stadt und erstatte Anzeige gegen Unbekannt. Später outeten sich die „Künstler“.
Entlang der Limmerstraße beklebten die Street-Art-Künstler Olf und Lupin im vergangenen Jahr ganze Straßenzüge mit ihren bemalten Kacheln. Nachdem der Stadt-Anzeiger über die Straßenkunst berichtet hatte, meldete sich einer der beiden Künstler in der Redaktion. Früher hätten sie auch gesprayt. Doch mittlerweile seien sie auf die Kachel-Kunst umgestiegen, da ihre Graffitis zu schnell wieder verschwunden seien.
Tags waren schon immer essenzieller Bestandteil von Graffiti. Einige Sprayer markieren von Brücken bis zu Häuserwänden alles mit den Schriftzügen ihrer Pseudonyme. Künstlerisch wertvoll sind die selten, machen aber schnell bekannt. So wie das Moses-Tag, das in Hannover hundertfach zu finden ist. Angeblich wohnt der anonyme Künstler in Linden, dessen Tags mittlerweile von New York bis Bejing zu finden sind.
HAZ