Der Jamiel-Kiez: Lindener fordern Viertel ohne Autos
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Carlo und sein Vater Raoul spielen beim Jamiel-Fest in der Minister-Stüve-Straße Schach.
© Quelle: Steiner
Linden-Mitte. Seifenblasen schweben durch die sommerlich warme Luft, Stimmengewirr und Lachen hallen durch die Straßen. Keine Autos sind zu sehen, dafür beleben viele Menschen und Aktionen die Minister-Stüve-Straße, die Eleonorenstraße und die Jacobsstraße. Das Viertel feiert sein erstes Jamiel-Fest, der Name setzt sich aus den drei Straßen zusammen.
Viele Nachbarn sind gekommen. Bänke und Tische laden zum Ausruhen, Essen und Klönen ein. Die Initiative Transition-Town hat einen Infostand aufgebaut, Kinder bemalen die Straße oder tummeln sich bei den zahlreichen Mitmachaktionen. Am Rand der Minister-Stüve-Straße spielt Papa Raoul, der sich einfach mit dem Vornamen anreden lässt, mit seinem dreijährigen Sohn Carlo Schach. „Wir wohnen am Lindener Marktplatz und haben hier mal vorbeigeschaut. Das ist ein tolles Fest“, meint der 40-Jährige, und Carlo ergänzt: „Ich war vorher schon bei den Seifenblasen.“
Sicheres Spielen ohne Autos
An der Ecke zur Jacobsstraße bieten mehrere Stände Kinderkleidung und Spielzeug an. „Ich habe von dem Fest über einen Flyer erfahren und gleich gedacht, das ist eine super Idee, dann kann ich endlich meine Kinderklamotten verkaufen“, meint Mareike (40), die ebenfalls keinen Wert auf ihren Nachnamen legt, und deutet mit dem Finger nach links in die Jacobsstraße. „Ich wohne gleich hier und habe heute schon viele getroffen, die ich kenne“, sagt sie. Und für Tochter Ella (3) gibt es genug zu spielen. „Die Kinder können hier gefahrlos spielen. Es ist prima, dass hier keine Autos fahren“, ergänzt Thomas (51), der zusammen mit Mareike am Stand mit Kinderkleidung steht.
Darum geht es den Veranstaltern des Jamiel-Nachbarschaftsfestes unter anderem. „Wir wollen die Leute zusammenbringen und dadurch die Nachbarschaft stärken, aber auch zeigen, wie es wäre, wenn hier keine Autos mehr fahren würden“, sagt Oliver Thiele. Er hat zusammen mit zehn anderen Nachbarn das Fest organisiert. „Das ist doch echt gelungen“, meint er zufrieden mit Blick auf das muntere Treiben auf den drei Straßen. „Ich hätte nicht gedacht, dass so viele kommen“, sagt Ingo Garrelts vom Organisationsteam, ebenfalls erfreut. „Wir wollen mit unserem Fest auch für mehr Grün in der Stadt werben“, ergänzt er.
Gegner im Viertel: „Jamiel-Kiez abreißen“
Nicht allen Anwohnern des „Jamiel“-Kiezes ist die Vision der Nachbarschaftsgemeinschaft geheuer. „Die Initiative besteht aus einer Minderheit, die sich mit wenig Rücksicht als Wortführer von 1000 Bewohnern präsentiert“, sagt Malte Mackenrodt. Seine kritisch-satirische Facebookseite facebook/elminjakiez hinterfragt das Engagement der Jamiel-Macher. Elminja ist ebenfalls eine Wortschöpfung aus den Namen der beteiligten Straßen – und eine Verballhornung der Jamiel-Initiative. Mit beinahe 300 „Likes“ zählt die öffentliche Seite dreimal so viele Unterstützer wie die (geschlossene) Jamiel-Facebook-Gruppe. Ihre richten sich gegen den professionellen Auftritt und die vorgefertigte Utopie der Initiative. „Im Grunde gibt es keinen Jamiel-Kiez. Es handelt sich dabei lediglich um eine Wortschöpfung eines Stadtentwicklers, der mit hartnäckiger und orchestrierter Kampagnenarbeit diese Vision und den Namen in den öffentlichen Sprachgebrauch überführen will, ohne dabei die rund tausend Bewohner vorher gefragt zu haben“, sagt Mackenrodt. Er befürchtet lanfristig die Umformung des Kiezes zu einer exklusiven Lebenswelt, in der nur Bewohner gewünscht sind, die es sich leisten können und die Jamiel-Vision teilen. Von Mario Moers
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Es gibt auch Gegner des Jamiel-Kiez, die schon Aukleber gedruckt haben gegen die Initiative.
© Quelle: Mario Moers
Etwa fünf Monate haben die Vorbereitungen für das Jamiel-Fest gedauert, herausgekommen ist ein beachtliches Angebot. Der BUND ist mit dabei, Yoga wird ebenso angeboten sowie ein Fahrradparcours, Kinderschminken und Entenangeln. Tischtennisplatten laden zu einem kleinen Match ein, und Livemusik mit Saxofon verleiht dem Fest das endgültige Sommerflair.
Eine besondere Attraktion ist das Fahrradkino KLAK. Wer will, kann dort auf einem der beiden aufgebockten Räder durch ausdauerndes Treten selbst Strom erzeugen, mithilfe eines derart aufgeladenen Akkus werden dann später Kurzfilme zum Thema Klimaschutz gezeigt. „Es geht uns darum, zu zeigen, was ein Fahrrad alles kann, und auch dafür zu sensibilisieren, was es bedeutet, Strom zu erzeugen“, erklärt Rolf Behringer aus Freiburg, der auf einer Tour an insgesamt 16 Stationen deutschlandweit Stromerzeugung auf praktische Art erlebbar macht. Am Abend ist dann der Akku per Muskelkraft aufgeladen, und das Kino kann starten.
Mehr als 1000 Besucher seien gekommen, schätzen die Veranstalter am Ende des Fests. Das Fazit: „Wir wollen auf alle Fälle im kommenden Jahr wieder im Jamiel-Kiez feiern“, sagt Thiele.
Mehr über die Initiative findet sich im Internet unter www.jamiel-kiez.de.
Kommentar: Umstrittene Utopie vor der Haustür
Sitze zum Verweilen, Kinder, die auf der Straße spielen, Blumenkästen, ein Flohmarkt, Sonnenschein. Und – ganz wichtig – keine Autos. So könnte doch der Jamiel-Kiez immer aussehen, finden die Aktivisten aus der JAcobs-, MInister-Stüve- und ELeonorenstraße. Kurz: JAMIEL. Wie auf der professionell positiv gestalteten Internetseite der Kiezianer zu lesen ist, bedeutet das Wort im Hebräischen so viel wie hübsch, begünstigt. Es sind eben engagierte Bildungsbürger, die hier ihren Lebens(t)raum verschönern wollen. Am vergangenen Wochenende sah es beim per Crowdfunding finanzierten Straßenfest des Kiezes ziemlich genau so aus, wie sich die Jamielianer (so nennen sie sich selbst) das vorstellen (Seite 3). Was Jamiel da treibt, ist positives, sublokales Bürgerengagement. Sogenannte Wutbürger streiten mit Plakaten und Protesten um den Raum vor ihrer Haustür. Jamiel tut dies mit bunten Illustrationen, einem idyllischen Filmclip und Aktionen. Es wirkt doch viel sympathischer, für etwas zu sein als gegen etwas. Dennoch macht man sich damit nicht nur Freunde im eigenen Viertel, wie auf Seite 3 zu lesen ist. Und mit bunten Visionen allein kann man keine Stadtteilarbeit machen. So verschliefen die Jamielianer völlig, dass der Bezirksrat Linden-Limmer gerade beschlossen hat, die zentrale Kreuzung ihres Kiezes umzugestalten. Dabei hätten sie prima mitreden können – wenn sie sich in die Mühle der Lokalpolitik begeben hätten. Doch selbst dann bliebe ein dauerhaft autofreies Viertel wohl Utopie. Aus gutem Grund. Denn wo parken dann die Jamielianer ihre Autos? Vor den Haustüren der benachbarten Straßen. Von Rüdiger Meise
Von Sonja Steiner