„Er sprach oft von den Leichen dort“
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„Hier waren die Häftlingsblocks“: Jennifer Orth-Veillon (l.) mit Ruth Gröne auf den Fundamenten des KZ Ahlem. Ihr Großvater befreite das Lager 1945.
© Quelle: Kutter
Hannover. Hier ist es gewesen. Jennifer Orth-Veillon atmet tief durch. „Hier hat sich das Leben meiner Familie von Grund auf verändert“, sagt die Amerikanerin. Ihr Großvater hat ihr daheim in Virginia immer wieder von diesem Ort erzählt. Die 39-Jährige steht zwischen den Bäumen, die über die Jahre zwischen den brüchigen Betonplatten gewachsen sind. Ein lauschiger, verwunschener Platz könnte dieses Gehölz unweit der Heisterbergallee sein. Doch diese Betonplatten im Waldboden waren einst die Fundamente der Häftlingsblocks im KZ Ahlem.
Captain William J. Hagood, ihr Großvater, war Feldarzt in der 84. US-Division. „Er hatte im Krieg Schreckliches gesehen - doch was er hier erlebte, trieb ihm die Tränen in die Augen“, sagt die Enkelin. Am 10. April 1945, jenem Tag, an dem die Amerikaner Hannover erobern sollten, saß er gerade beim Frühstück. Da bemerkte er einen ausgemergelten Mann, der den Müllbehälter der US-Soldaten auf der Suche nach Essbarem durchwühlte. Der Captain sprach ihn an, und der Niederländer gab sich als Gefangener zu erkennen. Er führte die G.I.s in das KZ, dessen Wachmannschaft schon abgerückt war.
„Mein Großvater sprach oft von den Leichen dort“, sagt die promovierte Literaturwissenschaftlerin. Als der Captain einem Gefangenen eine Zigarette zusteckte, hätten sich dessen Mithäftlinge gierig auf ihn gestürzt den ausgezehrten Mann zerquetscht. „In den Baracken fand er Menschen, die noch lebten, aber zu schwach waren, Nahrung bei sich zu behalten“, sagt Jennifer Orth-Veillon. Sie wurden ins Krankenhaus Heidehaus gebracht, doch sie starben dort nach der Befreiung.
In den USA würde der siegreiche Kampf gegen die Nazis oft romantisiert, sagt sie: „Mein Großvater jedoch mochte es nicht, wenn man ihn einen Helden oder Befreier nannte - er fühlte sich nicht so, weil er den vielen Todgeweihten in Ahlem ja nicht mehr hatte helfen können.“ Als traumatisierter Mann kehrte der Captain heim nach Amerika. Die Erinnerung an Ahlem quälte ihn bis zu seinem Tod im Jahr 2009. Und jetzt ist sie selbst bei ihrer Spurensuche an diesem Ort angekommen.
„Die Amerikaner kamen damals mit ihren Panzern über Harenberg nach Ahlem“, sagt Ruth Gröne. Die heute 82-Jährige musste in der NS-Zeit selbst den gelben Stern tragen. Ihr Vater wurde im KZ Sandbostel ermordet. Sie selbst entging der Deportation, weil ihre Mutter den Nazis als „Arierin“ galt. Ruth Gröne, die damals in einem „Judenhaus“ in Ahlem lebte, kann sich an die Ankunft der Befreier im nahen KZ noch genau erinnern: „Ein Helfer konnte sich zwei Häftlinge zugleich über die Schultern legen, als er sie aus der Baracke trug“, sagt sie. „Die Menschen sahen aus wie lebende Skelette.“
Die Zeitzeugin führt die Amerikanerin über das meist abgesperrte Gelände des früheren KZ, gemeinsam mit Renate Bauschke vom Arbeitskreis „Bürger gestalten ein Mahnmal“. „Hier waren die Blocks, und hinter dem Appellplatz war die Wäscherei“, sagt Bauschke. Rund 1500 Häftlinge wurden hier zwischen November 1944 und April 1945 hinter elektrischem Stacheldraht gequält. Sie mussten im nahen Asphaltstollen schuften, etwa 750 von ihnen starben. „Wir wollen hier einen Rundweg anlegen, Stationen sollen an das Leid der Häftlinge erinnern“, sagt Bauschke.
Für Jennifer Orth-Veillon ist die Vergangenheit hier ganz gegenwärtig: „Ich war meinem Großvater sehr nahe, und über die Jahre bin ich selbst ein Teil von dieser Geschichte geworden“, sagt sie. Inzwischen arbeitet sie an einem Buch über das Thema. Alte Fotos hat die Amerikanerin nach Ahlem mitgebracht. Aktenordner mit Dokumenten. Und beklemmende Zeichnungen, die Jan Dirk van Exter, der befreite Niederländer, vom Leben im KZ angefertigt hat. „Unsere Familien sind einander bis heute verbunden, wir besuchen uns jedes Jahr“, sagt sie. Dennoch haben die Kinder des Niederländers erst vor Kurzem erfahren, in was für einem schrecklichen Lager ihr Vater gewesen war.
„Häufig haben Opfer ihren Kindern gegenüber geschwiegen, um sie zu schützen“, sagt Jennifer Orth-Veillon. Erst die dritte Generation habe die nötige Distanz, unbefangen auf die Erlebnisse von damals zu blicken. Die große Geschichte dieses Krieges setze sich in Wirklichkeit aus vielen kleinen Geschichten zusammen, sagt sie, und jede sei es wert, weitererzählt zu werden. Die Geschichte ihres Großvaters ist eine davon. „In meiner Familie bin ich diejenige, die sie weitergeben muss“, sagt sie. Um den Ort zu sehen, an dem diese Geschichte spielte, ist sie nach Ahlem gekommen. Ihr Großvater war zeitlebens nie hierher zurückgekehrt.