Forscher wollen mit Gentherapie Taubheit verhindern
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Sabine Feuerhahn war fast taub, dank Implantat kann sie sich jetzt auch im Café unterhalten.
© Quelle: Foto: Heidrich
Hannover. Vielleicht lässt sich Taubheit eines Tages ganz verhindern, und damit die Einsamkeit, die oft mit Hörstörungen einhergeht. Sabine Feuerhahn würde das freuen. Die heute 51-Jährige begann vor rund 30 Jahren schleichend eine Schwerhörigkeit zu entwickeln. „Zum Schluss habe ich in einer stillen Welt gelebt, an der Grenze zur Taubheit.“ Es gab einen Punkt, an dem auch ihr Hörgerät nicht mehr weiterhalf. Die beiden Söhne, 20 und 24 Jahre alt, sind mit den Einschränkungen aufgewachsen. Sie gingen für die Mutter ans Telefon, übernahmen beim Einkaufen das Gespräch.
Sabine Feuerhahn arbeitete dennoch weiter, ihr Vorgesetzter teilte ihr Aufgaben zu, die sie ausschließlich am Computer erledigen konnte. In der Familie lernte sie intuitiv, Worte von den Lippen abzulesen. „Ich sah nur noch auf den Mund, nicht mehr in die Augen.“ Freunden tippte sie Nachrichten, statt sich direkt am Telefon auszutauschen. Den fehlenden Hörsinn musste sie mühsam ausgleichen, doch die frühere Unmittelbarkeit in der Kommunikation ließ sich nicht erreichen. „Es war ermüdend, zum Abend hin war ich sehr erschöpft.“
Dennoch begleitete Sabine Feuerhahn ihre Angehörigen zu Feiern, ins Theater oder Kino, auch wenn sie dem Inhalt nicht mehr folgen konnte. Manche Situation verlief kränkend, die Ertaubende fühlte sich isoliert. „Wenn ein Gegenüber merkte, dass ich nichts verstehe, schwenkte er automatisch zum Nächsten.“
Die Operation schiebt sie lange vor sich her
Vor genau zwei Jahren ließ sie sich in der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) ein Cochlea-Implantat ins linke Innenohr setzen, im Jahr 2018 bekam sie so eine elektronische Hörprothese auch im rechten Ohr. Sie profitiert davon, dass die MHH seit vielen Jahren Erforschung und Behandlung von Hörstörungen vorantreibt. Feuerhahn hat die Entscheidung aber lange vor sich hergeschoben. „Ich hatte Angst, was mit der Operation auf mich zukommt.“ Tatsächlich musste sie danach erst intensiv eine Woche trainieren, mit den vielfältigen Geräuschen umzugehen, die von allen Seiten auf sie einströmen. Wie klappern Schlüssel? Wie hört sich ein Baby an? Die Welt klingt mechanischer als früher. Und zuerst fühlte die Patientin sich regelrecht verfolgt.
Denn für Implantat-Träger es ist schwierig, sich räumlich zu orientieren, zwischen wesentlichen Geräuschen und Störlärm zu unterscheiden, wie das Gehirn es bei Gesunden quasi automatisch erledigt. „Der kleine, aber wichtige Zeitunterschied, mit dem ein Geräusch bei den beiden Implantaten eintrifft, ist ein Problem“, erläutert MHH-Professor Andrej Kral. Der Forschungsverbunds Hearing4All (auf Deutsch „Hören für alle“) arbeitet deshalb an der weiteren Verbesserung der Implantate. Im Niedersächsischen Zentrum für Biomedizintechnik, Implantatforschung und Entwicklung (NIFE) haben die Hörforscher dafür eigens einen schalltoten Raum, dessen Akustik auf unterschiedliche Tests zum räumlichen Hören angepasst werden kann.
Gentherapie soll Hörverlust verhindern
Mit der erneuten Förderung als Exzellenzcluster wollen die Wissenschaftler aber auch noch ganz anderen Fragen nachgehen. „Bei vielen Menschen ist die spätere Schwerhörigkeit genetisch angelegt und es ist immer besser, das Gehör zu erhalten, als Patienten später mit Hörgeräten oder Implantaten zu behandeln“, berichtet Professor Thomas Lenarz, Sprecher von Hearing4All. Aktuell entwickelt sein Team deshalb eine Gentherapie für Menschen, denen der Hörverlust droht. Dafür wollen die Mediziner eine Art trojanisches Pferd ins Innenohr betroffener Patienten schicken. Viren sollen die korrekte Geninformation huckepack nehmen und in die defekte Zelle einschleusen, die dann hoffentlich zukünftig besser arbeitet.
„Wir haben diese Viren jetzt erzeugt und getestet. Sie gehen in die richtige Zelle“, berichtet Lenarz. Bald startet eine klinische Studie mit einer Gruppe von Patienten, die alle den gleichen genetischen Defekt aufweisen. Die Forscher testen, wie gut die Methode funktioniert und ob sie bei allen in der Gruppe anschlägt. Sollte das klappen, ließe sich die Therapie womöglich auf andere Formen der genetischen Schwerhörigkeit übertragen.
Wie verändern Hörstörungen Funktionen des Gehirns?
Die Forscher wollen auch die Auswirkungen von Hörstörungen auf andere Funktionen des Gehirns und seine Leistungsfähigkeit im Lebensverlauf genauer untersuchen.„Das Hören ist wichtig für die Entwicklung von Sprache, die der Kommunikation und auch als Werkzeug des Denkens dient“, sagt Kral, der mit Lenarz das MHH-Institut für Audio-Neuro-Technologie und Nanobiomaterialien (VIANNA) leitet. Betroffene versuchen, die verlorene Sinneswahrnehmung auszugleichen, Hirnareale übernehmen deshalb neue Aufgaben. Das Hören ermöglicht allerdings unmittelbar die Orientierung und das Abschätzen von Gefahren, wie andere Sinne es nicht leisten können. Gehörlose müssen dafür Zusatzleistungen erbringen, die an anderer Stelle zu Einschränkungen führen können und zur schnelleren Erschöpfung am Ende des Tages beitragen. So ließ sich beobachten, dass taube Kleinkinder sich nicht bruchlos auf das Spiel mit den Eltern konzentrieren, sondern sich immer wieder umsehen und die Umgebung mit ihren Augen absuchen. Eine wichtige Phase des frühen Lernens ist damit gestört.
42 Millionen Euro für die Hörforschung
Im Forschungsverbund Hearing4All zur Hörforschung arbeiten insgesamt rund 200 Forscher an unterschiedlichen Themen, darunter Mediziner, Ingenieure, Physiker, Chemiker, Biologen und Psychologen. Im Exzellenzwettbewerb war die Gruppe vor sieben Jahren zum ersten Mal erfolgreich und konnte sich mit dem Titel Exzellenzcluster schmücken. Bund und Länder fördern mit der besonders prestigeträchtigen Initiative Spitzenforschung in Deutschland.
Federführend bei Hearing4All ist die Universität Oldenburg, die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) ist maßgeblich beteiligt, außerdem auch die Leibniz-Universität. Die Leiter der 25 Forschungsgruppen (acht davon an der MHH, 14 in Oldenburg) sind als Professoren dauerhaft beschäftigt, die wissenschaftlichen Mitarbeiter haben befristete Verträge.
Die MHH setzt bereits deutlich länger einen Schwerpunkt in der Hörforschung. Sie gilt weltweit als das wichtigste Zentrum für den Einsatz von Cochlea-Implantaten. Die Mediziner versorgen jährlich 600 bis 650 Menschen mit dieser Hörprothese im Innenohr und erwarten dieses Jahr den 10.000. Patienten. Neben der laufenden Forschung zur Verbesserung der Innenohr-Implantate entwickeln die Forscher Hilfen wie vibrierende Hörgeräte und Implantate im Mittelhirn.
Für die neue siebenjährige Förderperiode ab Januar 2019 hat das Exzellenzcluster 55 Millionen Euro beantragt. Da Bund und Länder Ende September 2018 mehr Forschungsverbünde genehmigt haben als zunächst geplant, müssen alle bewilligten Cluster Kürzungen hinnehmen. Für Hearing4All gibt es nun knapp 42 Millionen Euro. Gut 54 Prozent gehen nach Oldenburg, rund 34 Prozent an die MHH und knapp 12 Prozent an die Leibniz-Universität.
„Diese neuen Strategien, mit der Welt zurechtzukommen, verändern die Repräsentation der Umwelt im Gehirn des gehörlosen Kindes“, berichtet der Forscher. Schwerhörigkeit trägt auch zum Abbau der geistigen Fähigkeiten im Alter bei. Hörstörungen sind dabei weit verbreitet: Sie treffen rund 40 Prozent der über 65-Jährigen. „Die Wiederherstellung der Hörfähigkeit kann womöglich den geistigen Leistungsabfall im Alter mindern“, erklärt Professor Kral.
Sabine Feuerhahn war von diesen Problemen zum Glück noch weit entfernt. Die eigentlich sehr aktive Frau fühlt sich durch die Hörprothesen wie befreit. Sie ist nach 30 Jahren zum ersten Mal wieder Ski gelaufen. Im Sommer war sie mit einem Wohnmobil unterwegs. Und die bis vor Kurzem fast Gehörlose lernt die ersten Töne auf dem Saxophon.
„Wir hoffen auf das Smartphone als Hörgerät“
Professor Thomas Lenarz erläutert im Interview, welche Ziele sich die Hörforscher im Cluster (Verbund) Hearing4All setzen. Der profilierte Forscher und Mediziner leitet die Hals-Nasen-Ohren-Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover.
Herr Professor Lenarz, die Hörforscher an MHH und Uni Oldenburg waren zum zweiten Mal im Exzellenzwettbewerb erfolgreich. Was bedeutet das neben einer Fortsetzung der Forschungsfinanzierung?
Das ist natürlich eine besondere Auszeichnung für unsere wissenschaftliche Arbeit und die klinische Anwendung der Ergebnisse. Wir werden auf internationalem Niveau noch sichtbarer als Top-Einrichtung, von denen es nur eine Handvoll gibt.
Welche neuen Ziele hat sich der Forschungsverbund gesetzt?
Wir verknüpfen enorme Hoffnungen damit, dass Menschen künftig ihr Smartphone mit kleinen Kopfhörern nutzen. Bisher lehnen viele Menschen Hörgeräte noch ab, Schwerhörigkeit hat einen negativen Beiklang. Durch neue Geräte ändert sich das bereits. Wir entwickeln eine virtuelle Hörklinik, die Apps anbietet, mit denen Menschen ihr Gehör testen. Bei geringem Hörverlust reicht ein Hörgerät, das Patienten selbst einstellen können. Wir wollen dabei entstehende Daten auch für eine bessere Gesundheitsversorgung nutzen.
Wie kann das funktionieren?
Wenn wir die Daten vieler Menschen zusammenführen und abgleichen, können wir neue Zusammenhänge zu den Ursachen von Hörstörungen, zu Behandlungen und deren Wirkung herstellen. Das wollen wir dann wieder für jeden einzelnen nutzbar machen: Wie wird sich seine Schwerhörigkeit entwickeln? Mit welcher Wahrscheinlichkeit hilft eine bestimmte Behandlung? Dafür bauen wir eine bundesweite Datensammlung zu Hörstörungen auf. Quelle der Daten sind unsere Patienten in der MHH und Menschen, die in der virtuelle Hörklinik ihr Gehör testen.
Ihr Forschungsverbund nennt sich Hearing4All, auf Deutsch „Hören für alle“. Auch für Taube?
Genau. Die Kinder, denen wir Cochlea-Implantate einsetzen, sind taub geboren und können mit den Prothesen hören. Die Entwicklung von Sprache und Wahrnehmung verläuft danach nahezu normal. Als ein Ergebnis auch unserer Forschung wurde bundesweit eingeführt, dass Neugeborene auf Gehör getestet werden. Bei Auffälligkeiten folgen weitere Tests, damit schwerhörige Kinder möglichst im ersten Lebensjahr ein Hörgerät oder Implantat bekommen. Denn ein Kind, das nicht hört, hat keine Hörbahnreifung. Sein Gehirn entwickelt sich in den Arealen des Hörgehirns anders.
Von Bärbel Hilbig
HAZ