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Jubiläum

Hannoversche Kinderheilanstalt wird 150 Jahre alt

Die Anfangsjahre: In großen Sälen versorgen die Kinderkrankenschwestern ihre kleinen Patienten. Aus Angst vor Infektionen haben Eltern kein Besuchsrecht, obgleich die Kinder oft monatelang behandelt werden mussten.

Die Anfangsjahre: In großen Sälen versorgen die Kinderkrankenschwestern ihre kleinen Patienten. Aus Angst vor Infektionen haben Eltern kein Besuchsrecht, obgleich die Kinder oft monatelang behandelt werden mussten.

Hannover. Für Kinder armer Eltern müssen die Umwälzungen Mitte des 19. Jahrhunderts dramatisch gewesen sein. Auf der Suche nach besser bezahlter Arbeit strömten im Zuge der Industrialisierung Tausende bitterarme Landarbeiter in die Städte - auch nach Hannover. Wer aber wegen Krankheit oder Invalidität arbeitslos wurde, stand buchstäblich vor dem Nichts und war auf Betteln und Almosen angewiesen. Darunter zu leiden hatten vor allem die Jüngsten. Der erste Sanitätsrat des damals neu gegründeten Vereins Hannoversche Kinderheilanstalt, Dr. Meyenberg, berichtete 1865 von „greisenhaft aussehenden, bis zum Skelett abgemagerten Kindern“, die völlig sich selbst überlassen waren. In diesem Jahr feiert die traditionsreiche Stiftung Hannoversche Kinderheilanstalt, Trägerin des Kinderkrankenhauses Auf der Bult, ihren 150. Geburtstag.

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Die katastrophale Lage der Industriearbeiter, die vor allem in den Lindener Elendsvierteln lebten, führten am 31. Oktober 1863 zu dem Beschluss einer Reihe honoriger Bürger, einen Verein für eine Hannoversche Kinderheilanstalt ins Leben zu rufen. Drei Monate nach der Vereinsgründung am 10. Januar 1865 nahm die erste Poliklinik für Kinder in der Calenberger Straße 43 ihre Arbeit auf. Die für Bedürftige kostenlose Ambulanz wurde geradezu überrannt: In den ersten zehn Jahren behandelten Ärzte und Schwestern 8347 Kinder.

Besuche nur zweimal wöchentlich für eine halbe Stunde

In Ermangelung eines eigenen Krankenhauses mussten schwer kranke Kinder zunächst im (1860 eröffneten) Henriettenstift untergebracht werden - was zu langen Wartezeiten führte, weil Erwachsene Vorrang hatten. Mithilfe großzügiger Spenden konnte die Stiftung Hannoversche Kinderheilanstalt, der Kaiser Wilhelm I. 1875 die Rechte einer juristischen Person verliehen hatte, im selben Jahr in der Südstädter Lehzenstraße 11 das erste Kinderkrankenhaus mit 30 Betten eröffnen. Es dauerte keine 20 Jahre, da platzte die kleine Klinik aus allen Nähten. 1893 eröffnete die Stiftung in der Ellernstraße im Zooviertel ein größeres Krankenhaus mit 110 Betten - das jahrzehntelang den wenig schmeichelhaften Beinamen „Kinderheule“ trug.

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Aus Angst vor Infektionen durften Eltern ihre Kinder nur zweimal wöchentlich für eine halbe Stunde sehen - und ihnen durch eine Glasscheibe zuwinken. Die kleinen Patienten saßen währenddessen nicht selten vor Sehnsucht weinend in ihren Betten. Erst mit der Fertigstellung des Kinderkrankenhauses Auf der Bult 1983 wurden ganztägige Besuchszeiten eingeführt, und Eltern dürfen seitdem bei ihren Kindern übernachten.

Die Arbeitsbedingungen für die Kinderschwestern in den Anfangsjahren waren ausgesprochen hart. Geregelte Arbeitszeiten gab es nicht, nur selten freie Tage, und neben den Kindern mussten sich die „Ersatzmütter“ auch um die Wäsche ihrer Patienten kümmern, einschließlich des Stopfens ihrer Jäckchen. 1922 richtete die Kinderheilanstalt eine der ersten Kinderkrankenpflegeschulen Deutschlands ein, die gerade ihren 90. Geburtstag gefeiert hat. Der Unterricht fand damals allerdings nur dann statt, wenn ein Arzt Zeit hatte.

Medizinischer Aufbruch

Die beiden Weltkriege setzten dem Verein arg zu. Infolge der Inflation von 1920 bis 1923 verlor die Kinderheilanstalt ihr gesamtes in Wertpapieren angelegtes Vermögen. Im Zweiten Weltkrieg stellten die Luftangriffe 1942/1943 das Klinikpersonal vor enorme Herausforderungen. Beinahe jede Nacht mussten die Kinder in Luftschutzbunker gebracht werden - die Zahl der Patienten betrug 1942 immerhin 2745. Nach mehreren zerstörerischen Angriffen wurde der Krankenhausbetrieb 1943 in das Schullandheim der Herschelschule nach Nienstedt am Deister verlegt.

Mit dem Wiederaufbau begann auch die Zeit des medizinischen Aufbruchs. Das Krankenhaus erhielt moderne Operationssäle, ein Zentrum zur Behandlung von Kinderlähmung, die erste Frühgeborenenabteilung. 1962 wurde die bundesweit erste Station für Kinder- und Jugendpsychiatrie eingerichtet. Und mit der Verfügbarkeit von Penicillin konnten endlich Infektionskrankheiten behandelt werden, die zuvor häufig noch tödlich verlaufen waren. Mitte der siebziger Jahre sorgte eine Einwegwindel namens „Pampers“ aus den USA für erhebliche Arbeitserleichterungen der Schwestern, die die Stoffwindeln bis dahin immer per Hand vorwaschen mussten, ehe sie in die Wäscherei gegeben werden konnten. „Es gab auch zu wenige Stoffwindeln. Deshalb haben wir sie vor der Nachtwache versteckt, um die Kinder nächsten Morgen mit frischen Windeln versorgen zu können“, erzählt Annelotte Hirschmann. Die 80-Jährige arbeitete bis 1992 fast 41 Jahre als Kinderkrankenschwester - zunächst in der Ellernstraße, ab 1983 auf der Bult. Heute verbraucht die Kinderklinik pro Jahr durchschnittlich 165000 (Einweg-)Windeln.

4,5 Millionen behandelter kranker Kinder

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Mit dem 1983 fertig gestellten 350-Betten-Neubau auf dem Gelände der alten hannoverschen Pferderennbahn fusionierte die Hannoversche Kinderheilanstalt mit dem 1914 gegründeten Kinderkrankenhaus Cecilienstift. Unter dem neuen Namen Kinderkrankenhaus Auf der Bult entstand in den Folgejahren eine hochmoderne Kinderklinik, die in vielen Bereichen bundesweit eine Vorreiterrolle einnahm. Aus der Neugeborenenabteilung wurde ein Zentrum für Früh- und Neugeborene mit Intensivstation, 1997 folgte die Gründung von Hannovers erstem Perinatalzentum. 1990 eröffnete das Cochlear Implant Centrum Wilhelm Hirte in Groß-Buchholz. Und als erstes Kinderkrankenhaus in Deutschland richtete die Kinderklinik mithilfe zahlreicher Spender 1999 die Station Teen Spirit Island für suchtkranke Kinder und Jugendliche mit zwölf Plätzen ein. 2010 kamen sechs weitere Plätze hinzu - für internet- und computersüchtige Kinder und Jugendliche.

Amelie v. Schintling-Horny, Vorstandsmitarbeiterin des Kinderkrankenhauses, hat hochgerechnet, dass in den 150 Jahren seit Gründung der Stiftung Hannoversche Kinderheilanstalt etwa rund 4,5 Millionen Kinder behandelt wurden. Eine ihrer kleinen Patientinnen kam allerdings aus dem hannoverschen Zoo. „Uta Orang“ nannten die Kinderkrankenschwestern einen Orang-Utan-Säugling, der 1971 monatelang unter größter Geheimhaltung in der Kinderheilanstalt aufgepäppelt wurde. „Sie wurde gewindelt und alle drei, vier Stunden gefüttert wie alle Neugeborenen“, erinnert sich Annelotte Hirschmann. Das kleine Menschenaffenkind war von seiner Mutter verstoßen worden.

HAZ

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