Lüttje Lage: Qualen nach Wahlen
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Simon Benne
© Quelle: Samantha Franson
Hannover. Die große Tragetasche war in Vergessenheit geraten. Fast zwei Wochen lang hatte sie im Auto gelegen. Jetzt hatte ich ihren Inhalt auf den Küchentisch geschüttet. Dort lagen nun Kugelschreiber, Notizblöcke, Flaschenöffner, Blumensamentütchen, noch mehr Kugelschreiber, Einkaufswagenchips, Papierfähnchen und noch mehr Kugelschreiber.
„Boah, so viel haben wir gekriegt!“, sagte mein sechsjähriger Sohn mit glänzenden Augen. Am Tag vor der Wahl waren wir nämlich in der City unterwegs gewesen und hatten uns an allen Parteiständen als interessierte Wechselwähler zu erkennen gegeben. Bei der CDU hatten sie uns Straßenmalkreide mitgegeben. Bei den Grünen Brausepulver. Und bei der SPD ein Parteiprogramm. Die Beute lag jetzt vor uns wie ein Stillleben der Demokratie.
Grünes Brausepulver
„Die hier wollen wir wählen!“, ordnete mein Sohn an, als er die Malkreide sah. „Oder die hier!“, sagte er, während er sich eine Ladung Brausepulver in den Mund goss. Es schäumte grünlich. Ich klärte ihn darüber auf, dass die Wahl doch längst gelaufen sei.
„Echt?“, sagte er und kritzelte mit dem Kuli der CDU aufs Programm der SPD. „Und wer hat gewonnen?“ Ich zögerte kurz. „Der hier ist klarer Favorit“, sagte ich und zeigte auf ein Politikerfoto, „aber dieser hier will auch noch Chef werden.“ So gesehen sind wir so klug wie vor der Wahl. Der Souverän hat gesprochen, aber er weiß selbst nicht genau, was er gesagt hat.
Regieren im Wechsel?
„Wenn sich die beiden nicht einigen können, müssen sie sich halt abwechseln“, sagte mein Sohn. „Eine Woche dieser, eine Woche der andere.“ Er öffnete eine Chipstüte, der Fall war für ihn erledigt. Ich hielt die Idee für so klug wie den alten Vorschlag, in England den Rechtsverkehr einzuführen, jedoch vorerst nur für Autos mit ungeraden Nummernschildern. Aber ich nickte nur stumm.
Viele Ältere haben zuletzt über die politischen Haltungen der Jungen oft schlecht geredet. Über ihren moralischen Dünkel und über die Kompromisslosigkeit, die so viel Unerfahrenheit eben mit sich bringt. Ich aber weiß: Die junge Generation geht viele Fragen in Wirklichkeit sehr pragmatisch an.
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Von Simon Benne