Holocaust-Überlebender Henry Korman mit 98 Jahren gestorben
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Beredter Zeitzeuge: Henry Korman in seinem Lieblingscafé, der Holländischen Kakaostube.
© Quelle: Michael Thomas
Hannover. Er stand am Rande des Massengrabes. Henry Korman war im April 1945 einer der ausgemergelten Häftlinge in Bergen-Belsen, und als er an der Grube stand, in die er die Leichen werfen musste, war ihm, als spräche der Abgrund zu ihm: „Das Massengrab hat mich reingelockt, ,Komm rein!’ hat es gesagt“, berichtete er später.
An diesem Tag versteckte er sich unter einer Decke in einem Leichenberg, zwischen lauter Toten, und hielt Zwiesprache mit seinen schon ermordeten Eltern: „Bald bin ich bei euch.“ Am nächsten Morgen aber rüttelte ihn ein Mitgefangener wach. „Wir sind frei!“ Die Engländer hatten Bergen-Belsen erreicht.
Er stand vor Mengele
Immer wieder hat Henry Korman seine Geschichte erzählt, obwohl es ihn immer wieder Kraft kostete. Tausende von Jugendlichen haben sie über die Jahre bei gemeinsamen Auftritten mit seinem Schicksalsgefährten Salomon Finkelstein in Schulen gehört. „Die Kinder werden immer ganz still, wenn wir sprechen“, sagte er selbst. „Die Lehrer behaupten, sie würden schwatzen, aber das tun sie nie.“ Am Ende applaudierten noch die größten Rabauken, oft mit Tränen in den Augen und im Bewusstsein, dass ihnen gerade ein Stück Geschichte aus erster Hand anvertraut worden war.
Am Donnerstagabend ist Henry Korman nun im Alter von 98 Jahren gestorben. Die Stadt verliert mit seinem Tod eine ihrer beeindruckendsten Persönlichkeiten.
Korman, geboren 1920 im polnischen Radom, kam als junger Jude nach Auschwitz. Er war nackt, als er vor den KZ-Arzt Josef Mengele treten musste, der die Schwachen zum Ermorden aussortierte. Um nicht krank zu wirken, trug er seine Hose so über dem Arm, dass sie eine gerötete Stelle am Bein verdeckte. Er überlebte Auschwitz, das KZ Hannover-Mühlenberg, Hunger, Schläge, die Zwangsarbeit bei der Hanomag und am Ende den Todesmarsch nach Bergen-Belsen.
Nach dem Krieg ging Korman für einige Jahre nach Schweden, arbeitete als Chemiker. Eine Familie gründete er nie; er trug bei jedem Schritt ein Bündel mit Fotos seiner ermordeten Familie in der Innentasche bei sich. Zuletzt lebte er abwechselnd bei Verwandten in den USA und auf der Bult. Fragte man ihn, ob denn New York oder Hannover mehr zu bieten habe, sagte er: „Hannover hat mehr Ruhe zu bieten.“
Einsatz für Versöhnung
Schlagfertig und geistreich war der alte Herr mit den vollen, weißen Haaren. Und er konnte granteln wie weiland Herbert Wehner. Zum Beispiel, wenn ihn jemand fragte, wie er nur im Lande der Täter leben könne: „Deutschland ist für Juden heute das beste Land in Europa“, herrschte er dann, „das ist nicht mehr das Deutschland von Hitler.“ Korman war ein Freund klarer Worte, und nach allem, was er erlebt hatte, ließ er sich von keiner Autorität mehr einschüchtern.
Als Martin Kind ihn zu seinem 96. Geburtstag durchs Stadion führte, erklärte der leidenschaftliche Fan dem 96-Klubchef erst einmal die Grundbegriffe des Fußballs. Mit iPad und Smartphone hantierte der 98-Jährige ganz selbstverständlich, und als im vergangenen Jahr der Fahrstuhl in seinem Haus ausfiel, ging der agile alte Herr eben zu Fuß in den sechsten Stock. Bis zuletzt zeigte er Flagge für die Demokratie; noch am 9. November war er bei einer Gedenkveranstaltung im Landtag dabei.
In den vergangenen Jahren erhielt er zahlreiche Ehrungen, vom Niedersächsischen Verdienstkreuz bis zum Theodor-Lessing-Preis. Er genoss die Anerkennung. Es freute ihn auch, dass sich in seinen letzten Lebenstagen die Honoratioren in seinem Zimmer im Vinzenzkrankenhaus die Klinke in die Hand gaben – darunter Ministerpräsident Stephan Weil. „Henry war mir ein guter Freund“, sagt Weil, „er wird mir und unserem Land fehlen.“
„Er hat einen großartigen Beitrag zur Versöhnung geleistet“, erklärt Regionspräsident Hauke Jagau. Und auch Oberbürgermeister Stephan Schostok zeigt sich betroffen: „Hannover wird sich immer dankbar an ihn erinnern.“
Seine letzte Ruhestätte wird Henry Korman voraussichtlich in den USA finden.
Von Simon Benne
HAZ