Kein Interesse an Projekt gegen sexuelle Gewalt?
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Barbara David und Kerstin Kremer vom Verein Violetta werben für Aufklärung und die Prävention von Missbrauch.
© Quelle: Samantha Franson
Hannover. Die Fachberatung Violetta stellt ihr Aufklärungsprojekt an Schulen zu sexueller Gewalt im Internet nach elf Jahren ein. Zahlreiche Schüler konnten in dieser Zeit Fragen loswerden und mehr Sicherheit beim Surfen im Netz gewinnen. Warum der Verein sich neu ausrichtet, erklären Barbara David und Kerstin Kremer im Interview.
Zur Person
Barbara David ist Geschäftsführerin der Fachberatungsstelle Violetta. Die Diplom-Sozialpädagogin hat den Trägerverein im Jahr 1988 mitbegründet und arbeitet seit Bestehen der Fachberatungsstelle im Juni 1989 bei Violetta. Die Sozialpädagogin Kerstin Kremer ist seit April 2016 bei Violetta beschäftigt und verantwortlich für Fortbildungen und Prävention.
Frau David, Frau Kremer, Sie wünschen sich, dass Lehrer ihre Schüler stärker in Fragen der sexuellen Selbstbestimmung unterstützen. Warum? Gehören solche sensiblen Themen nicht eher ins Elternhaus?
Kremer: Alle Kinder und Jugendlichen gehen während einer längeren Lebensphase in die Schule. Sie ist der perfekte Ort, damit Kinder ihre Rechte kennen lernen und erfahren, was nicht in Ordnung ist, was sie nicht hinnehmen müssen. Das ist wichtig zur Vorbeugung.
Warum beenden Sie das Violetta-Internet-Projekt? 2017 haben gut 580 Schüler mitgemacht. Die Jugendlichen sind doch froh, wenn sie endlich jemanden fragen können, ob es normal ist, dass sie zum Beispiel anonym Intimfotos zugeschickt bekommen.
David: Ja, die Kinder haben viele Fragen zur Sexualität. Und uns geht es bei unserer Aufklärungsarbeit nicht darum, ihnen Angst zu machen.
Kremer: Aber Prävention kann nur funktionieren, wenn die Erwachsenen mitmachen. Die Schulen haben häufig nur die Veranstaltungen für die Schüler abgerufen und die Angebote für Lehrer und Eltern nicht gebucht. Dabei sind die Erwachsenen für den Schutz der Kinder und Jugendlichen verantwortlich. Wenn wir die Kinder in unseren Veranstaltungen ermutigen, über schwierige Erlebnisse zu sprechen, brauchen sie im Alltag vertraute Menschen, die bereit zum Zuhören sind. Sonst läuft das Ganze ins Leere.
Nun wollen sicher die meisten Pädagogen in Kitas und Schulen die ihnen anvertrauten Kinder schützen. Woran kann das dennoch scheitern?
David: Wenn Erwachsene sich nicht mit dem Thema auseinandersetzen, haben sie oft Sorge, ein betroffenes Kind könnte sie ansprechen. Sie sind unsicher, weil sie häufig nicht wissen, wie sie reagieren sollen und helfen können. Manche Lehrer berichten uns, an ihrer Schule sei ihnen zum Glück noch kein Kind begegnet, das sexualisierte Gewalt erfahren hat. Es gibt diese Kinder und Jugendlichen aber. Wir wünschen uns deshalb ein Umdenken: Ein Glück wäre es, wenn diese Kinder reden dürfen und Hilfe bekommen.
Wie viele Kinder und Jugendlichen betrifft das?
Die Weltgesundheitsorganisation geht für Deutschland von einer Million Mädchen und Jungen aus, die sexuelle Gewalt erlebt haben oder erleben. Das sind pro Schulklasse ein bis zwei betroffene Kinder.
Reden wir wirklich von so hohen Zahlen? Was fällt alles darunter?
David: Das sind natürlich statistische Durchschnittswerte und Hochrechnungen.
Kremer: Uns geht es in unserer Arbeit um die gesamte Bandbreite. Kinder werden sexuell angefasst, obwohl sie das nicht wollen. Erwachsene oder Gleichaltrige konfrontieren sie mit Pornografie – in der Familie, im Sportverein oder in der Nachbarschaft. Oder Mädchen tragen schwer an dem Geheimnis, dass ihrer Freundin Schlimmes passiert ist.
David: Wir wünschen uns, dass Lehrer, Sozialarbeiter und andere Vertrauenspersonen die Problematik erkennen. Sie können nur helfen, wenn sie sich sicher fühlen und wissen, bei wem sie sich auch frühzeitig Rat holen können. Die meisten brauchen nur einen kleinen Anstoß.
Warum ist das für die Kinder wichtig?
Kremer: Es fällt ihnen leichter sich anzuvertrauen, wenn Lehrer Offenheit signalisieren. Manche Kinder testen die Erwachsenen mit ihren Äußerungen oder geben Signale.
Was kann das sein?
Kremer: Diese Signale können vielfältig und schwer einzuordnen sein. Zu den Andeutungen kann beispielsweise gehören, wenn ein Kind nicht mehr nach Hause will oder nicht mehr in den Fußballverein. Andere Kinder äußern sich gar nicht, aber zeigen ein stark sexualisiertes Verhalten oder ziehen sich komplett zurück.
Lehrer sollen unterrichten, und viele weitere Aufgaben übernehmen. Das hören Sie sicher häufig?
David: Niedersachsen hat sich der Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“ angeschlossen. Wir hoffen stark, dass das Kultusministerium Lehrern Zeit für diese wichtige Aufgabe einräumt.
Neues Angebot für Grundschulen
Der Verein Violetta besteht in diesem Herbst seit 30 Jahren. Ein halbes Jahr später nahmen Mitarbeiterinnen die Beratung für sexuell missbrauchte Mädchen und junge Frauen auf. Inzwischen nimmt die Prävention breiten Raum ein. Die Fachberatungsstelle bietet Fortbildungen für Eltern sowie Fachkräfte in Schulen, Kindertagesstätten und Jugendeinrichtungen. Mädchengruppen können die Beratungsstelle bei einem Besuch kennen lernen. Ein neues Modellprojekt für Grundschulen zur Vorbeugung sexualisierter Gewalt hat Violetta jetzt mit der Stadt Hannover entwickelt. Es soll Schulleitern, Klassenlehrer der Dritt- und Viertklässler sowie weiteren Mitarbeitern helfen, Missbrauch zu erkennen. Die Fortbildung dauert sechs bis zwölf Stunden, Angebote für Eltern und Kinder sind möglich. Der Zonta Club und der Verein Help übernehmen die Kosten für die ersten zwei Schulen. Bisher hat sich erst eine Grundschule angemeldet.
Von Bärbel Hilbig