Mit dem Garten verwachsen
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Der denkmalgeschützte kleine Bau steht seit 100 Jahren in der Kolonie Berggarten 1 in Herrenhausen.
© Quelle: Philipp von Ditfurth
Herrenhausen. Im letzten Jahr vor dem großen Krieg fahren vierspännige Pferdekutschen durch Hannover, beladen mit einem Haus. Genau gesagt sind es die Einzelteile eines Hauses, Fachwerkbalken, Steine, Fenster, Ziegel, Fußbodensteine, die die Lastentiere im Jahr 1913 von der Christuskirche in Richtung Berggarten transportieren. Stück für Stück zieht das Haus von der Nordstadt nach Herrenhausen, von der Straße in den Kleingarten um – es wird transloziert, wie der Fachmann sagt. Das Ziel, das die Kutschen anfahren, ist die ein Jahr zuvor gegründete Kleingartenkolonie Berggarten.
Dort steht das steinerne Stück Geschichte noch heute. Seit genau 100 Jahren schmückt es den Garten am Palmenweg 148. Ein Grund zu feiern für Hubert Rettich, der Garten und Gartenhaus hegt und pflegt. Doch der 60-Jährige konnte in diesem Sommer nicht nur das Jubiläum des Fachwerkhäuschens begehen, sondern sich unlängst auch über den zweiten Platz beim Wettbewerb um Hannovers schönster Kleingartenlaube freuen. „Den Garten und das dazugehörige Haus habe ich 1978 zusammen mit Burkhard Weinges als Pächter übernommen“, sagt Rettich. Damals wirkten beide dort noch gemeinsam im Garten, heute pflegt Rettich die Himbeerhecke und den Rhododendron, die Sonnenwiese und die Azalee allein.
Gesicherte Fakten über die Entstehung
Wir wissen heute also genau, seit wann das Gartenhaus in der wunderschönen Grünanlage steht. Seit wann das Fachwerkhaus aber seinen ursprünglichen Standort zierte, entzieht sich unserer Kenntnis. „Der Pavillon ist Zeugnis einer Gartenlaubenromantik, die in der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts vorherrschte“, sagt Hubert Rettich. „Abgetragen wurde er 1913, weil er der neuen mehrstöckigen Bebauung entlang der Straße An der Christuskirche weichen musste.“ Rettich hat auf einem alten Stadtplan der Jahre 1826 bis 1831 ein Gartengrundstück an der späteren Adresse An der Christuskirche 20 gefunden. Dort ist auch ein Eckhaus eingezeichnet. „Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich um dasselbe Gartenhaus, das bis 1913 nach Auskunft von Hedwig Pauli dort gestanden hat.“ Hedwig Pauli war die Tochter des Dekorations- und Kirchenmalers Heinrich Herkenhoff, der das Fachwerkhaus 1913 in die Kleingartenkolonie bringen ließ und erster Pächter des Kleingartens war.
Das Grundstück An der Christuskirche 20 befand sich zwischen 1882 und 1912/13 im Eigentum des Brennereibesitzers Wilhelm Niemann. Ihm kaufte Herkenhoff das Haus ab. Dessen Tochter Hedwig Pauli lernte Hubert Rettich noch kennen. Sie gab dem interessierten Gartenhistoriker wertvolle Informationen, die er in eine rund 100-seitige Arbeit über den ehemals 660 Quadratmeter großen Garten einfließen ließ. So hatten die unmittelbar am Berggarten gelegenen Kleingärten eine andere Funktion als die grünen Nutzflächen von Arbeiterfamilien. Dort, in Herrenhausen, verbrachten bürgerliche Familien ihre freie Zeit, die ihre Wohnungen etwa an der Bödeckerstraße hatten, die dort aber keinen Garten nutzen konnten. In den Herrenhäuser Kleingärten am Palmenweg konnten die Stadtkinder im Grünen aufwachsen, die Familie traf sich zum Plausch und erholte sich im Grünen. Nutzgärten, die die Ernährung von ärmeren Familien sichern sollten, waren den bürgerlichen Familien hingegen eher fremd. In seiner Studie beschreibt Rettich auch detailliert die Maße des Hauses: „Der Pavillon – ein massiver Ziegelstein-Fachwerkbau 2 hat eine quadratische Grundform von etwa vier mal vier Metern und ist bis zur Traufe 3,20 Meter hoch.“ Mit seiner „welfengelben“ Farbgebung erinnern die Ausfachungen an die Häuser im Umfeld des Großen Gartens.
Bevor Hubert Rettich und Burkhard Weinges 1978 ihren Garten übernahmen, war der alte Garten geteilt worden, sodass sie das Teilstück, zu dem das alte Gartenhaus gehörte, neu gestalten mussten. „Wir haben ihn wie ein Haus mit verschiedenen Zimmern angeordnet“, erzählt Rettich. „Diese sind über einen Weg – den ,Flur’ – zu erreichen.“ Die einzelnen Gartenräume haben unterschiedliche Aufgaben und Funktionen: In einem wächst Obst und Gemüse, der nächste fungiert als Sommerwiese, der dritte als Schattenplatz zum Lesen. Die – in der Gartenordnung festgelgte – Mischung umschreibt Rettich sehr schön mit dem Begriff „Nutzlustgärtchen“.
Viel Liebe zum Detail
Hubert Rettich hat den heute 440 Quadratmeter großen Garten mit viel Liebe zum Detail gestaltet. So laufen auf eine gusseiserne Blumensäule diagonale Wege zu, womit Rettich die strenge Architektur des Großen Gartens zitiert. Hier stehen die historischen Holzbänkchen, daneben die historische Wasserpumpe, dort ein kleines Orangenbäumchen und am Ende des Weges ein bemaltes hölzernes Tor, das in alten Zeiten als Windfang direkt neben dem Haus stand.
Das Gartenhaus selbst ist um einen Raum erweitert worden; neben dem ursprünglichen Wohnzimmer mit Sofa, Tisch, Stühlen, Regalen und einem Leuchter ist ein kleiner Schlafraum mit Küche dazugekommen. In einem ehemaligen Abstellraum befindet sich eine Toilette. Der Fußboden im Wohnzimmer setzt sich noch aus den originalen roten Sandsteinen zusammen, das Fundament unter dem Fußboden bildet Koksasche aus dem ehemaligen großen Palmenhaus des Berggartens. Die Bemalung der Wände hat dagegen die Bombardierung im Zweiten Weltkrieg - das Haus war durch eine Druckwelle angehoben und beschädigt worden - nicht überstanden. An einer Stelle ist noch rötliche, an die Toskana erinnernde Farbe an der Wand zu erkennen. Die ursprüngliche Bemalung, darunter Illusionsmalerei an der Decke, ist von neuer Farbe übertüncht. Dass sich unter der heutigen Farbschicht ästhetische Schätze verbergen, lässt allein schon die Tatsache vermuten, dass der erste Gartenpächter als Kirchenmaler arbeitete.
Obwohl Hubert Rettich weiß, wie viel Arbeit in dem Kleinod in der Kleingartenanlage steckt, wird er es wohl weiter pflegen. Noch wolle er das Kapitel nicht beenden, sagt er. „Ich bin durchaus mit dem Garten verwachsen.“
HAZ