Projekt will Arbeit für Schneider schaffen
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Praktikant Faty Bakary hat in der Nähwerkstatt „Unter einem Dach“ ein Kleid geschneidert, Initiatorin Iyabo Kaczmarek führt es vor.
© Quelle: Tobias Eineder
Hannover. Nähmaschinen rattern, auf Schneiderpuppen und Ständern hängen aufwendig bestickte Blusen, die aus verschiedenen Stoffen zusammengesetzt sind. Der Speisesaal des ehemaligen Maritimhotels mit seinen prächtigen Brokattapeten hat sich zu einer Nähwerkstatt gewandelt, in der Flüchtlinge in einem Praktikum ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen können. Mit ihrer Initiative „Unter einem Dach“ bieten die beiden Kulturschaffenden Alexandra Faruga und Iyabo Kaczmarek seit geraumer Zeit diese Möglichkeit, auch für Holz- und Metallarbeiten. Und die beiden haben hochfliegende Pläne, wie es mit der Textilwerkstatt weitergehen soll. „Wir wollen langfristig Arbeitsplätze schaffen“, betont Iyabo Kaczmarek. Eine Produktionsstätte, in der Designer Kleinserien in Auftrag geben, schwebt den Frauen vor.
„Wir haben schnell festgestellt, dass viele Flüchtlinge Kenntnisse aus ihrer Heimat mitbringen“, erzählt Werkstattleiterin Nadine Maier. Besonders aus Syrien und Afghanistan kommen etliche Schneider, manche mit Fertigkeiten, die hier kaum bekannt sind. „Wir lernen selbst dazu“, sagt Maier, die wie ihre Stellvertreterin Diep Mai auf Honorarbasis arbeitet. Neuen Praktikanten legen die Frauen zur Probe ein Stück Stoff hin. So hielten sie es kürzlich auch mit Faty Bakary. Der 24-Jährige begann zu falten und zu schneiden, quasi aus dem Handgelenk, ganz ohne Schnittmuster. Und ließ sich nicht bremsen. Binnen zwei Stunden entstand ein schlichtes und zugleich raffiniertes Sommerkleid.
„Das ist ein Kleid für die Frau von heute und morgen“, meint Nadine Maier. Denn wie es auch in Deutschland früher üblich war, hat der junge Schneider in den Seitennähten großzügig Stoffreserven versteckt. Auch die Falten am Rockteil sind variabel. Wenn sich die Figur der Trägerin verändert, lässt sich das Kleid anpassen. „Das habe ich von meinem Chef in Mali gelernt“, erzählt Bakary. Designerin Maier spricht anerkennend über die besondere Falttechnik, mit der Bakary den Stoff zum Schnitt zurechtlegte. Es entstand ein perfekt symmetrischer Ausschnitt.
Doch die Kenntnisse lassen sich nicht ohne weiteres auf den deutschen Arbeitsmarkt übertragen. „Es ist sichtbar, dass viele ohne technische Möglichkeiten gearbeitet haben“, berichtet Maier. In der Werkstatt lernen sie Fertigungsstandards, Dampfbügeleisen und Nähmaschinen mit Rückwärtsgang kennen. Anders als im Holz- oder Metallbereich lassen sich für die Teilnehmer des dreimonatigen Praktikums in der Nähwerkstatt jedoch nur schwer Arbeitsplätze finden. Nennenswerte Textilindustrie gibt es in Deutschland nicht mehr, ganz abgesehen davon, dass den Schneidern meist Arbeitszeugnisse fehlen. So entstand die Idee einer Fertigungswerkstatt.
Als Alexandra Faruga das Vorhaben kürzlich bei einem Workshop beim Netzwerk Kre-H-tiv der Wirtschaftsförderung Hannover-Impuls vorstellte, war das Echo positiv. Etliche Modedesigner konnten sich vorstellen, Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. „Für die ansässigen Modeleute wäre eine professionelle Produktionsstätte für Kleinstserien toll“, betont Christine Preitauer von Kre-H-tiv. Die Produktdesignerin Katrin Potyka lässt bereits Teile ihrer flexiblen Tasche „Dryxx“ in der Werkstatt herstellen. Die Tasche aus plissiertem Hightech-Material kann ihr Volumen verändern und auch zum Rucksack umgewandelt werden. „Die Auftragsvergabe vereinfacht meine Arbeit, ich bin selbst keine Näherin“, erklärt die Start-Up-Unternehmerin.
Eine Mitarbeiterin hat „Unter einem Dach“, das als gemeinnützige Unternehmensgesellschaft fungiert, bereits eingestellt. In Afghanistan fertigte Fazila Jalal Frauenkleidung, oft verziert mit Stickereien, die sie per Hand oder Maschine herstellte. „Hier habe ich leider keine Stickmaschine“, bedauert die 36-Jährige, die an verschiedenen Aufträgen arbeitet. So bestickt sie für eine Produktserie von Claude Wingenfelder, Ehefrau von Fury-Sänger Kai, Lampen mit Glasperlen. Auch die Tragetaschen für das Lumix-Filmfestival stammen aus der Werkstatt. Liegen keine Aufträge vor, verwenden die Mitarbeiter gespendete Kleider und Stoffe. Aus ausrangierter Arbeitskleidung der Aha-Müllwerker nähen die Praktikanten Tragetaschen für Yogamatten mit signalroten Leuchtstreifen, Sitzkissen, Beutel oder auch Hundespielzeug. „Je nach Kenntnis und vorhandenem Material entstehen andere Produkte“, erläutert Alexandra Faruga.
Kennengelernt haben sich die Frauen als ehrenamtliche Helferinnen im ehemaligen Oststadtkrankenhaus. Beim Sortieren von gespendeter Kleidung für die Flüchtlinge in der Unterkunft fiel ihnen der gute Zustand vieler Hemden und Hosen auf. „Aber für die geflüchteten Menschen waren die Kleidungsstücke oft viel zu groß“, erinnert sich Nadine Maier. Die Schneiderin und Designerin etablierte 2016 eine kleine Nähwerkstatt, regte die Bewohner zur Mitarbeit an. „Wir haben Kleider für die Kinder genäht.“ Als die Unterkunft schloss, zog die Werkstatt ins ehemalige Maritim. Auch dort verlassen wohl im Herbst die letzten Flüchtlinge das Haus.
Für 2019 sucht „Unter einem Dach“ gemeinsam mit Fairkauf ein Gebäude, in dem Werkstätten und Büros der Initiative, ein Café und ein Coworking-Space mit Nähmaschinen Platz finden. Für die Finanzierung laufen Gespräche mit Stiftungen, Region, Landessozialamt. Als Zwischenlösung will die Textilwerkstatt ein Ladenlokal beziehen, auch damit das Angebot sichtbarer wird, nur fehlt dafür das Geld. Unterstützung wäre willkommen.
Mehr Flüchtlinge starten Ausbildung
Die Industrie- und Handelskammer Hannover stellt zu Beginn dieses Ausbildungsjahres fest, dass sich die steigende Zahl Geflüchteter, die im Jahr 2018 in eine Ausbildung starten, positiv am Ausbildungsmarkt auswirkt. „Die Geflüchteten füllen bereits die demografische Lücke, die durch immer stärker sinkende Schulabgängerzahlen gerissen wird“, sagt Prof. Günter Hirth, Leiter der IHK-Berufsbildung. Haben 2017 noch 177 Geflüchtete eine Ausbildung begonnen, erwartet die IHK für dieses Jahr den Abschluss von 250 Ausbildungsverträgen mit geflüchteten jungen Menschen, das entspricht einem Zuwachs von über 40 Prozent. Auch für die nächsten Jahre rechnet die IHK mit einem weiter steigenden Anteil von Geflüchteten in der Ausbildung. Dass zunehmend Flüchtlinge eine Ausbildung beginnen, bestätigt die Handwerkskammer Hannover. Oft gelingt dies über eine Einstiegsqualifizierung in einem Langzeitpraktikum von sechs bis neun Monaten. Die Handwerkskammer bietet außerdem ein Integrationsprojekt namens Handwerkliche Ausbildung für Flüchtlinge und Asylbewerber. Die Teilnehmer erkunden dabei ihre Interessen und Fähigkeiten, die Kammer vermittelt Praktika.
Von Bärbel Hilbig
HAZ