HAZ-Serie "Brennpunkt Schule"

„Pünktlich kommt hier niemand“

„Sie sind so lebendig, mutig. Sie wollen hier ankommen, Dinge erreichen, die ihren Eltern nie möglich waren“: Eva Grünreich fördert Adrian (l.) und Doroftei.

„Sie sind so lebendig, mutig. Sie wollen hier ankommen, Dinge erreichen, die ihren Eltern nie möglich waren“: Eva Grünreich fördert Adrian (l.) und Doroftei.

Hannover. Manchmal reicht ein einziges Wort. „Wach“ schreibt Förderschullehrerin Eva Grünreich dann um 7 Uhr morgens per Whatsapp an ihren Schüler Adrian, 13. Das ist als Frage gemeint, als ein „Kommst du zur Schule?“ - und meist kommt kurze Zeit später die befreiende Antwort: „Ustinov Schule“. Wenn Adrian nach 8 Uhr noch nicht im Unterricht ist, klingt Grünreichs Ton gleich sorgenvoller. „Unde esti tu“ schreibt sie dann. „Wo bist du?“ auf Rumänisch. Grünreich hat für ihren Schützling sogar ein bisschen Rumänisch gelernt. Die 40-Jährige hat Grund, sich Sorgen zu machen. Adrian hat sich zu Beginn seiner Schulzeit an der Peter-Ustinov-Schule, einer Brennpunkt-Oberschule in Ricklingen, ständig verirrt. Nicht nur auf dem Schulweg, sogar im Schulgebäude. Zu fremd waren ihm die neue Stadt, die deutsche Sprache. Schilder lesen, jemanden nach dem Weg fragen, all das konnte der Junge nicht.

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Eine völlig fremde Welt

Adrian ist ein Romakind, geboren in der spanischen Stadt Almeria, in der auch viele Roma leben. Angeblich ist er in Spanien ein paar Jahre zur Schule gegangen. Ob das stimmt, weiß man nicht. Zeugnisse oder Meldebescheinigungen fehlen. Seit Ende 2016 lebt er mit seinen Eltern in einer Notunterkunft im Burgweg in Herrenhausen-Stöcken und versucht, in der Peter-Ustinov-Schule Fuß zu fassen; in einer völlig fremden Welt. Nicht genug damit, dass er kein Deutsch spricht, als er ankommt. Schreiben kann er nur seinen Namen, dazu wahllos ein paar Buchstaben. Rechnen geht nur im Zahlenraum von eins bis zehn. Adrian kann nicht einmal einen Stift richtig halten. Er umfasst ihn mit der Faust, als er in der Schule startet. Dabei müsste der Junge theoretisch den Stoff der siebten Klasse bewältigen.

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Weil das unmöglich ist und weil Kinder wie er den Rahmen jeder normalen Klasse sprengen, gibt es an der Peter-Ustinov-Schule Förderlehrerinnen wie Eva Grünreich und an einem Tag in der Woche Förderunterricht. In Adrians Gruppe haben sich an diesem Tag elf Kinder aus den Klasse sechs bis neun und zwei Sprachlernklassen in einem in die Martin-Luther-King-Schule ausgelagerten Klassenraum versammelt. Die meisten stammen aus Bulgarien oder Rumänien. Fünf fehlen. „Das ist“, sagt Grünreich, „noch ein guter Schnitt.“ Viele der Eltern hätten nie eine Schule kennengelernt, wüssten den Wert von Bildung nicht zu schätzen. Manche schicken ihre Kinder nur unregelmäßig in die Schule, andere führen auch mitten im Schuljahr wochenlang in die Heimat zurück. „Schulabsentismus“, Schule schwänzen, wie man früher sagte, ist ein großes Problem. Pünktlich kommt niemand. „Einen gemeinsamen Anfang wie in der normalen Schule“, sagt Grünreich, „haben wir nie.“

Das hat auch damit zu tun, dass Kinder wie Adrian ganz andere Probleme haben. Viele leben in großer Armut, in städtischen Notunterkünften, in einem Zimmer mit Eltern und Geschwistern, oder, schlimmer noch, in Schrottimmobilien ohne Heizung, warmes Wasser. Ein Junge in Adrians Lerngruppe, ein Rumäne, bekommt zu Hause nie Frühstück, sagt Grünreich. Er ist immer früh da, weil er weiß, dass er im „Frühstücksclub“ der Schule etwas zu essen bekommt. Lange war der Junge überdies abgestempelt als einer, der keine Fortschritte machte. Bis die Lehrer feststellen: Er ist fast blind. Weil er kaum Deutsch sprach, hatte er niemanden auf seine Sehprobleme hinweisen können. Zu Hause hatte man seine Behinderung offenbar ignoriert. „Seit er eine Brille trägt“, sagt Grünreich, „kann er lesen.“

Viele Kinder haben überdies niemanden, der sie weckt, geschweige denn pünktlich zur Schule schickt. Deshalb sendet Eva Grünreich Adrian jeden Morgen eine Whatsapp-Nachricht. Warum macht sie sich so viel Mühe, über den normalen Unterricht hinaus? „Ich liebe diese Kinder“, sagt die Frau, die selbst drei Kinder hat. „Sie sind so lebendig, mutig. Sie wollen hier ankommen, Dinge erreichen, die ihren Eltern nie möglich waren.“

Lesen und schreiben lernen beispielsweise: mit zwölf, 13 Jahren. Rechnen lernen. Deutsch. Es ist bedrückend zu erleben, wie weit entfernt manche Kinder vom Niveau einer weiterführenden Schule sind. Kinder, die vom Alter her in die Oberschule gehören, aber gerade mal den Zahlenraum bis fünf beherrschen, sitzen hier, Kinder, die einzelne Wörter oder einen kleinen Text auf Deutsch lesen können. Kinder, die dazu ohne jedes Material in die Schule kommen. Arbeitsblätter, Stifte, alles bringen die Lehrer mit. Dazu kommen zutiefst traumatisierte Flüchtlingskinder. Ein Mädchen, erzählt Grünreich, sprach ein halbes Jahr nicht. Kreise malen sie an diesem Morgen, Quadrate. Was ist rund, was ist eckig? Elementare Fragen stehen auf dem Programm. In Kleingruppen werden einfache Wörter wie Baum oder Apfel Bildern zugeordnet. Manche, die weiter sind, versuchen, Artikel für Substantive zu finden. Ein Jahr lang haben sie Schonzeit in einer Sprachlernklasse, danach müssen sie sich mit etwas zusätzlicher Sprachförderung bereits in einer Regelklasse zurechtfinden. Nach zwei Jahren werden sie benotet - ein Unding, sagen Kritiker.

Der Wille bei den Kindern ist da

Dass sich der Unterricht lohnt, zeigt Adrian überdeutlich. In wenigen Monaten hat der pfiffige Junge im Zahlenraum bis 1000 rechnen gelernt. Er spricht Deutsch, holprig zwar, aber er spricht. Sechs Stunden Unterricht sind für Kinder wie ihn, die einen Großteil ihres Lebens tagsüber auf der Straße verbracht haben, dennoch kaum zu schaffen. Dabei ist der Wille da. Als Doroftei, ein Freund von Adrian, nicht mehr stillsitzen kann, schickt Frau Grünreich ihn auf den Pausenhof: laufen. Wer glaubt, der wilde Junge nutze die neu gewonnene Freiheit für Kaspereien, irrt. Brav dreht er seine Runden.

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Befreiung vom Lehrplan

Die Peter-Ustinov-Oberschule ist eine von zwei weiterführenden Schulen in Hannover, die sich in den vergangenen Monaten wegen extrem schwieriger Lernumstände an die Öffentlichkeit gewandt haben.

Rund 90 Prozent der rund 300 Kinder haben einen Migrationshintergrund. Dazu kommt ein hoher Anteil von Kindern von Armutszuwanderern aus Bulgarien und Rumänien. Jeweils rund 50 Schüler sind arabisch- oder bulgarischsprachig, jeweils über 30 sind rumänischsprachig oder sprechen die Sprache der Roma: Romanes. Viele Schüler aus Bulgarien und Rumänien sind Roma, die in ärmlichsten Verhältnissen leben. Manche können nicht lesen und schreiben. Der Schulausschuss hat deshalb gerade einen Prüfauftrag verabschiedet, um eine Aushilfskraft für rumänische Schüler und jemanden mit einer 75-Prozent-Stelle für arabischsprechende Jugendliche einzustellen.

Experten halten für Kinder ohne Schulvorbildung eine längerfristige Befreiung von den Vorgaben der Lehrpläne und mehr Personal dringend für nötig. Wenn Kinder nicht einmal mit Stiften oder der Schere umgehen könnten und kein Grundwissen im Rechnen und Schreiben hätten, brauche es besondere Konzepte und Zeit, um sie an Schule heranzuführen.

Nach zwei Stunden ist für die beiden Jungen dennoch Schluss. Die Enge des Klassenraums, das ungewohnte Stillsitzen. Es ist ganz offensichtlich: Hier zuhören, sich konzentrieren, das schaffen sie nicht mehr. Förderlehrerin Grünreich greift in solchen Momenten mehrmals in der Woche zu einem Hilfsmittel, das mehr als ungewöhnlich ist. Sie fährt mit den schwierigsten „ihrer“ Kinder zum Unterricht zu sich nach Hause. Die 40-Jährige, die auch eine Ausbildung zum heilpädagogischen Reiten hat, hält privat zwei Ziegen und ein Pony. Für Kinder, die keine Regeln kennen, seien Tiere Gold wert, sagt sie. Die Ziegen und Pferde spiegelten das Verhalten der Kinder, reagierten sofort, wenn diese eine Grenze überschritten, so direkt und eindeutig, wie es kein Mensch könnte.

Grünreich lebt in einem umgebauten Fachwerkhaus. Sonnenblumen wachsen im Vorgarten, in den Bäumen hängen Dekorkugeln. Eine heile Welt. Der Bruch mit der Welt der Romakinder könnte nicht größer sein. Bemerkenswert ist: Die beiden Jungen interessieren sich überhaupt nicht dafür. Das Entscheidende sind die Tiere.

„Kommst du morgen?“

Ziege Frodo beispielsweise steckt neugierig den Kopf durch den Zaun, als sie ankommen, lässt sich streicheln, lässt sich brav an der Leine zu den Pferden auf die Weide führen. Bei ihrer ersten Begegnung in der Schule sei Adrian so verstört gewesen, dass er reflexartig mit der Hand zum Schlag ausholte, als sie ihn an der Schulter berührte, erzählt Grünreich. Von Aggressivität, von Zappeln, Stören, ist auf der Pferdeweide nichts mehr zu spüren. Wo man die Pferde anfassen darf, das ist jetzt wichtig. Warum Pony Bruno keine Eisen an den Hufen hat und ob Hufeisen so eine Art Schuhe sind. Die wilden Jungen sind hier vor allem eines: ruhig. Nicht nur Deutschkenntnisse und Umgangsregeln, auch überhaupt erst einmal Vertrauen zu einer fremden Bezugsperson zu entwickeln, sei für Kinder wie Adrian wichtig. „Das kann man hier sehr gut lernen“, sagt Grünreich.

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Den Tag beschließt - wie jeden Schultag - eine neue Verabredung zwischen dem 13-Jährigen und ihr. „Kommst du morgen?“, fragt Eva Grünreich, und „Wo treffe ich dich?“ Adrians Antwort lässt auf einen weiteren, guten Schultag hoffen: „Peter-Ustinov-Schule“, sagt er schlicht.

HAZ

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