Verwandt mit Karl dem Großen?
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Wer seine Familie sucht, fängt ganz unten an: Mit dem eigenen Namen. Dann kann das Vereinsarchiv weiterhelfen.
© Quelle: Körner
Hannover. Das Glück einer Currywurst hat manchmal nichts mit der Wurst zu tun. Gabriele Fricke ist es vor ein paar Monaten so gegangen. Sie saß in einem Imbiss, das Essen war bestellt, und sie betrachtete so ganz allgemein die Gegend. Gegenüber lag das Friederikenstift und plötzlich, an der Ecke nebenan, dort, wo immer eine Galerie Kunst anbot, hing ein Zettel im Fenster. Der Eigentümer suchte neue Mieter. Fricke, Vorsitzende des Landesvereins für Familienkunde, dachte: Das wäre was für uns. Bald zog man um, nur 300 Meter weiter, aber was war das für ein Unterschied. Doppelt so viel Platz, an einer Straße gelegen, sogar Schaufenster. Eine neue schöne Welt. Fricke registriert seitdem „Laufkundschaft“ für das Fach mit den erstaunlich vielen Vokalen: Genealogie.
Nun ist zwar alles großzügiger bei den Familienforschern, es gibt mehr Raum für 10000 Bücher, Zeitschriften, Chroniken, Ordner und Nachlässe, aber an der Mühsal langwieriger Quellenarbeit hat sich nichts geändert. Es ist nicht so, dass Besucher, Laufkundschaft oder nicht, einfach klingeln können, zu Gabriele Fricke oder dem erfahrenen Matthias Zimmermann gehen, ihre Namen sagen und sie, ehrenamtliche Forscher und Spurensucher, holen dann mal schnell Familiengeschichte und Stammbaum aus Archiven oder den zahlreichen Adressen im Internet. „Nein“, sagt Fricke entschieden, „so geht das nicht. Sorglospakete bieten wir nicht an.“ Die Mitglieder des Vereins helfen sehr, bei Recherchewegen und Methoden. Aber Papiere seiner Familie muss sich jeder selbst besorgen, amtliche Dokumente, Geburtsurkunden etwa, liegen bei Behörden. Wer einiges beisammen hat über seine Familie, muss sich dann auf eigene Faust in den Unterlagen des Vereins vergraben.
Dabei ist Vorsicht geboten, um nicht zu sagen Misstrauen. Die Suche nach Vorfahren ist ein Weg voller Fallgruben und Zweifel die erste Tugend des Ahnenforschers. Matthias Zimmermann kann viele Geschichten von Verirrungen erzählen, er hat das oft erlebt, er kennt seine Pappenheimer. Der Pappenheimer ist: der Mensch mit seinen zahlreichen Schwächen. Geltungsdrang, Schlamperei, Gleichgültigkeit, Schönfärberei, Mogeleien. Auch diese Menschen sind es, die Quellen niedergeschrieben haben. Historischem Material begegnet er deshalb mit freundlichem Misstrauen - schön, dass es all diese Dokumente gibt, aber was er dort liest, muss ja längst nicht stimmen.
„Über die Jahrhunderte können sich bloße Annahmen zu Beweisen verfestigen“, sagt Zimmermann. Er forschte in eigener Sache, als ihn der Verdacht beschlich, das Wappen seiner Familie könnte womöglich nicht auf eigener Tradition beruhen. Jenes Wappen, das auf dem Siegelring abgebildet war, den er am Finger trug, ein Geschenk zur Konfirmation. Es stellte sich heraus, dass irgendwann Zimmermanns Vorfahren vom Emblem einer anderen Familie Gebrauch gemacht hatten, „usurpiert“, wie er sagt. Jahrhunderte später war diese unfeine Aneignung eines fremden Symbols für Matthias Zimmermann Grund genug, diesen Siegelring abzunehmen und bis heute nicht mehr zu tragen. Größer geworden ist dagegen sein Bestand an Dokumenten. 50000 Daten hat er inzwischen über seine Familie in all ihren Verzweigungen gesammelt. Im Computer, nur mit analogen Zettelkasten sind solche Mengen nicht zu bewältigen. Zimmermann entdeckte Landwirte und Leibeigene unter seinen Vorfahren, aber auch die historische Figur August von Kotzebue. Der Mann fand, als Ermordeter, ein dramatisches Ende.
Wohl jedes Mitglied im Landesverein kennt Geschichten über Irrtümer und falsche Fährten. Da trugen Pastoren in Leichenpredigtenbücher falsche Todestage ein, in Kirchenbüchern sind oft Jahreszahlen falsch oder, nicht viel besser, in kaum leserlicher Schrift hingeschmiert worden. Standesbeamte verwechselten Hochzeitstage. Solch ein Fehler hat Zimmermann einmal ein halbes Jahr lang einen falschen Strang verfolgen lassen. Eine Gefahr, die besonders bei Namensgleichheit besteht. Beliebt war auch die pure Angeberei. Zimmermann nennt es „das Aufbauschen“ von Familienchroniken. „Es gab Zeiten, da wollte jeder mit Karl dem Großen verwandt sein.“ Der Wunsch nach Nähe zur Macht, noch ein Klassiker der Menschheitsgeschichte.
Gabriele Fricke ist das jetzt ein wenig zu viel mit schwierigen Geschichten. Klar, Ahnen mit Wanderberufen sind oft kaum aufzutreiben, „Schäfer und Schäferin sind klassische Beispiele für findest-du-nie-wieder.“ Aber fast alle Menschen hinterlassen Spuren. Sie zahlten Steuern, Landesherren zählten ihr Volk, über Fremdarbeiter im Zweiten Weltkrieg finden sich Unterlagen bei einer Versicherung. Kriminalstatistiken führen Namen von Ausländern, die aus Deutschland gewiesen wurden, oft wegen Bettelei, „Weibspersonen“, darunter Fabrikarbeiterinnen, wegen Prostitution. Bei einem Rundgang durch die Bibliothek zeigt die Vorsitzende die Vereinsschätze. Totenzettel mit Lebensläufen von Verstorbenen. Oder hier, die blauen Einbände mit Passagierlisten von Auswanderern, geführt seit 1846. Namen von Schiffen, Abfahrtshäfen, Ziel Amerika. Behörden hatten die Listen angelegt, um zu verhindern, dass sich Verbrecher, Steuerhinterzieher oder Kindsväter aus dem Staub machen. Kästen voller Karteikarten lagern hier, von denen man sich fragt, wer da jemals hineinsehen wird.
Und weil es so viel Material gibt, macht Gabriele Fricke auch in scheinbar aussichtslosen Fällen Mut, es zu versuchen. Auch im Osten. „Viele glauben, dort sei alles verbrannt und verloren. Aber das stimmt oft nicht. Es ist nur ein Trauma, das die Menschen im Kopf haben.“ Beim Verein haben sie Experten für Osteuropa, Fachleute für Adlige und das Militärwesen, wieder andere haben Kenntnisse entwickelt, Handschriften zu entziffern. Dabei geht es nicht nur um die, in heutiger Betrachtung, verschnörkelte Sütterlinschrift. Sie haben hier den Ehrgeiz, aus unleserlich hingehauenen Schriften verständliche Texte zu machen.
Der Verein ist in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Gabriele Fricke und der Vorstand haben sich das Ziel gesetzt, zu den 600 Mitgliedern neue zu gewinnen. Denn es muss gesagt werden, dass das Hobby der Familienforschung für junge Leute keine große Attraktion zu sein scheint. Ältere Herren scheinen zu dominieren. Die angestrebte Altersgruppe liegt nun deutlich unterhalb der Rentengrenze von 67. Der Verein sucht Männer und Frauen zwischen 30 und 60 Jahren.
Am 3. August stellt der Niedersächsische Landesverein für Familienkunde bei einem Tag der offenen Tür seine Arbeit vor, Mitglieder beraten Einsteiger über Möglichkeiten der Familienforschung. Die Räume in der Rückertstraße 1 sind dann von 10 bis 15 Uhr geöffnet.
HAZ