Vier Jahre Streit: Warum „Section Control“ so umstritten ist
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/5NMM4EWD6P4OSHPB3MT5357KXY.jpg)
Die bundesweit erste Streckenradar-Messanlage wurde am 19. Dezember 2018 in Laatzen aktiviert.
© Quelle: Tim Schaarschmidt
Hannover. Dem Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover geht ein jahrelanger Streit zwischen dem Land und der Polizeidirektion auf der einen Seite und Datenschützern auf der anderen Seite voraus – aktuell befeuert durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVG). Politiker von Grünen, FDP und Piraten in Niedersachsen hatten daraufhin die sofortige Abschaltung der Geschwindigkeitsüberwachungsanlage Section Control an der Bundesstraße 6 bei Laatzen gefordert. Auch die Landesdatenschützer monieren, dass die Kameras der Pilotanlage nicht nur Kennzeichen, sondern auch personenbezogene Daten wie Fahrtrichtung, Ort und die Zeit festhalten – selbst wenn kein Geschwindigkeitsverstoß vorliegt. Mit dem Urteil des BVG sei klar, dass die Laatzener Anlage auch im Probebetrieb verfassungswidrig ist. Dieser Auffassung ist das Verwaltungsgericht nun gefolgt.
Das Niedersächsische Innenministerium teilt diese Auffassung nicht. Zum einen sei Section Control keine verdeckte Maßnahme, da Schilder öffentlich darauf hinweisen. Zum anderen gleiche die Geschwindigkeitsüberwachungsanlage keinerlei Daten mit Fahndungsdateien der Polizei ab. Mit dieser Lesart konnte sich das Land nun vor Gericht aber nicht durchsetzen.
So funktioniert die Radaranlage Section Control
Video: M. Klein
In Ländern wie Italien, Österreich, Belgien und den Niederlanden gehört die Tempokontrolle per Streckenradar schon lange zum Autofahrer-Alltag. Rund um die bundesweit erste Anlage dieser Art, die bei Laatzen steht, tragen Befürworter und Gegner aber schon seit Jahren einen heftigen Kampf aus. Eine besonders wirksame Form der Tempokontrolle, die aufgrund der Erfahrungen in anderen Ländern viele Menschenleben rettet, loben die einen. Erhebliche Verletzungen des Datenschutzes und eine Massenüberwachung unbescholtener Bürger monieren die anderen. Mit dem Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover dürfte der Streit aber nicht entschieden, sondern nur die nächste Runde der juristischen Auseinandersetzung eingeläutet sein.
Früher Start gescheitert
Die streckenbasierte Tempoüberwachung wurde bereits 2009 vom Verkehrsgerichtstag in Goslar empfohlen. Sie führe zu einem harmonischeren Verkehrsfluss, hieß es damals, das gefährliche Abbremsen vor stationären Blitzern entfalle. Ausgeguckt für ein entsprechendes Pilotprojekt wurde die vierspurige Bundesstraße 6 zwischen den Laatzener Ortsteilen Gleidingen und Rethen, die als sehr unfallträchtig galt. Zunächst sollte Section Control bereits im Herbst 2015 in den Testbetrieb gehen, doch meldete die Landesdatenschutzbeauftragte Barbara Thiel Zweifel an, ob die Daten der Autofahrer bei dieser Form der Überwachung ausreichend geschützt sind.
Auf der B 6 werden zunächst die Kennzeichen aller Autos an beiden Endpunkten eines 2,2 Kilometer langen Streckenabschnitts fotografiert, um die Durchschnittsgeschwindigkeit der hier tagtäglich 15.500 Richtung Norden fahrenden Wagen zu berechnen. Dafür müssen die Nummerschilddaten von einer Kamera zur anderen übermittelt werden - was Skeptiker als potenzielle Sicherheitslücke ansehen, falls diese Daten von Hackern abgefangen werden. Auch monieren Kritiker, dass die Kennzeichen aller Autos registriert werden, egal, ob die Fahrer am Ende zu schnell unterwegs sind oder nicht. Es müsse hundertprozentig sichergestellt werden, dass die Nummernschilder von nicht zu schnell gefahrenen Wagen rückstandsfrei gelöscht werden. Von zwei weiteren Kameras von vorne und hinten geblitzt sowie endgültig abgespeichert werden Fahrer und Wagen nur dann, wenn die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 100 Kilometern pro Stunde – belegt durch einen Weg-Zeit-Abgleich der beiden vorherigen Kamerasysteme – tatsächlich überschritten wird.
Andere Verfahren im Ausland
Aufgrund der Bedenken des Landesamtes für Datenschutz verschob das niedersächsische Innenministerium die Inbetriebnahme des Pilotprojekts auf 2016, doch auch das war verfrüht. Zudem brauchte die Physikalisch-Technische Bundesanstalt in Braunschweig sehr lange, um die für deutsche Straßen neuartige Anlage zu zertifizieren. Ein Grund war, dass die Technik sich von der in anderen europäischen Ländern unterscheidet. Dort haftet bei einem Tempoverstoß der Halter des Fahrzeugs, sodass es ausreicht, das entsprechende Nummernschild von hinten zu blitzen. In Deutschland muss jedoch auch der Fahrer identifiziert werden, weshalb bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von vorne und hinten fotografiert wird.
Schließlich versprachen Polizeidirektion Hannover und Innenministerium, dass die zwischen den Kennzeichen-Kameras übermittelten Daten in einer Art digitalem Safe sicher vor dem Zugriff von Unbefugten seien. Am 19. Dezember 2018 gab der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius Section Control offiziell frei. In den ersten vier Wochen wurde nur geblitzt, aber noch nicht kassiert, seit dem 14. Januar 2019 zieht jede Geschwindigkeitsübertretung auf dem Streckenabschnitt zwischen Gleidingen und Rethen einen Bußgeldbescheid nach sich. Das ist nun vorerst vorbei.
Die Pilotanlage sollte vorerst für 18 Monate bis Ende Juni 2020 getestet werden. Für einen darauf folgenden Regelbetrieb wollte das Land eine notwendige Gesetzesänderung abwarten, die im Zuge der Überarbeitung des Polizeiaufgabengesetzes in diesem Jahr erfolgen sollte. Nun aber gibt das Verwaltungsgericht einen neuen Zeitplan vor: Die 7. Kammer unter Vorsitz von Michael Ufer urteilte, dass die Section-Control-Anlage zwischen Gleidingen und Rethen so lange unzulässig ist, bis es eine Rechtsgrundlage für den Betrieb gibt.
Auch als die Radaranlage in Laatzen noch gar nicht in Betrieb gegangen war, erzielten die vielen Kamerasäulen am Straßenrand bereits eine abschreckende Wirkung: Die Zahl der Unfälle ging laut Polizei nach 2015 merklich zurück. Insbesondere die Zahl von schweren Unfällen, die auf zu hoher Geschwindigkeit basierten, nahm ab. In den ersten vier Wochen des regulären Betriebs zwischen Mitte Januar und Mitte Februar 2019 wurden 67 Fahrer geblitzt, die teilweise mit Tempo 140 unterwegs waren. Eine Vertreterin der Region erklärte vor dem Verwaltungsgericht, bislang seien zwar schon etliche Verfahren eingeleitet, aber noch keine Bußgeldbescheide verschickt worden.
Von Michael Zgoll
HAZ