Tauschen und verschenken

Wie sinnvoll sind Bücherschränke?

Wolfgang Kratscher ist Bücherpate in Kleefeld.

Hannover, Bücherschrank Treffen mit Pate Hr. Wolfgang Kratscher, Kleefeld, Ebellstraße/ggü. Schaperplatz Foto: Samantha Franson

Hannover. Das wichtigste vom Büchermarkt zuerst: der Umsatz. Leser tauschen 5000 Exemplare pro Bücherschrank und Jahr. Hochgerechnet auf alle 34 Standorte in Hannover bedeutet dies, dass mindestens 170 000 Bücher herausgenommen und zurücksortiert werden. Rechnet man pro Buch ein Gewicht von 300 Gramm, dann sind alle Schränke verantwortlich für einen Büchertausch von jährlich mindestens 50 Tonnen. Diese Zahlen ermittelte das Institut Borderstep für die Stadt Hannover.

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Der Bücherschrank lebt, wenngleich in der Stadtlandschaft unauffällig. Er steht für eine sehr demokratische Idee, weil er Bildung für alle bietet, unabhängig von Herkunft und Kontostand. Man braucht keinen Mitgliedsausweis, die Schränke sind 24 Stunden durchgehend geöffnet, zugänglich ohne Lesegebühr und, auch das ist ein Unterschied zur Stadtbibliothek: Man kann gelesene Bücher behalten, wenn man dafür ein neues ins Regal stellt. Das ist die freiwillige Spielregel, aus der sich ein ewiger Kreislauf ergibt. 36 Schränke stehen inzwischen verteilt im Stadtgebiet, im August kommt in Badenstedt ein weiterer dazu.

Paten sorgen für Ordnung

Zum konkreten Beispiel. Kleefeld, Ebellstraße. Eine Bank, eine hübsche Allee, ein Briefkasten, ein Bücherschrank. Das Einheitsmodell ist mannshoch, Holz, vier Regale, beidseitig befüllbar, Klappen mit Griff und Scheiben aus Plexiglas, getischlert wie alle von Arbeitslosen des Werkstatttreffs Mecklenheide. Wolfgang Kartscher hält in der Hand das „Personenlexikon A-L“, aus dem Umschlag sehen den Betrachter etliche prominente Köpfe an, Adenauer fehlt da nicht. Irgendwo soll das antiquierte Werk einen Platz finden. Kartscher ist Pate des Bücherschranks Kleefeld und Mitglied im örtlichen Bürgerverein, das Lexikon stammt aus einer Haushaltsauflösung. Bei solchen Gelegenheiten guckt er gelegentlich vorbei und schaut, ob geeigneter Stoff für seine Kunden dabei ist. Das geht mal gut, mal nicht. „Wenn ein Buch nach zwei Wochen immer noch da steht, muss es raus.“ In seinem Keller warten Hunderte Bücher darauf, ans Licht zu dürfen und in diesen Schrank.

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Kartscher gefällt der Bürgersinn, ausgedrückt im Tausch und der Möglichkeit, sich hier zu treffen. Deshalb schaut er gelegentlich am Ebellplatz vorbei, sortiert ein und nimmt heraus. Heute fischt er den Planer zur Fußball-Europameisterschaft 2016 weg. Ab in den blauen Sack. So etwas findet man eben manchmal, wie auch Telefonbücher oder eine Anleitung zur Führerscheinprüfung von 1986. Eine Russin kommt vorbei, sie sucht ein Sachbuch in russischer Sprache. Sie findet nichts, dafür nimmt sie ein Kochbuch mit. Auf Deutsch. Ein Bücherschrank ist kein Wunschkonzert, neue Belletristik findet sich zum Beispiel seltener, dafür manches von Konsalik und Danella.

"Ruf schlechter als die Wirklichkeit"

Man könnte sich öffentliche Räume mit einem besseren Image denken als den Vahrenwalder Markt. Sozialer Wohnungsbau in Form von Beton bestimmt sein Bild, viele Ausländer leben hier, Trinker gehören zum Alltag. Und mittendrin steht dieser Bücherschrank. Seit drei Jahren am Markt, noch nie von Vandalen beschädigt, und für Patin Silwia Jokiel damit Beweis, dass funktionieren kann, was Pessimisten vorher nicht für möglich hielten. „Es zeigt, dass der Ruf schlechter ist als die Wirklichkeit.“

Jokiel führt am Vahrenwalder Markt ein Geschäft, und natürlich hat sie Interesse an einer vernünftigen Umgebung. Der Bücherschrank, sagt sie, wertet den Platz auf und deshalb übernahm sie die Patenschaft. Außerdem gefällt es ihr nicht, wenn Bücher im Müll landen. Das Ökonomische berührt das Kulturelle. Täglich sieht sie nach dem Schrank. Entfernt drangeklebte Plakate, putzt das Plexiglas und prüft, „ob die Bücher schön gerade stehen“. Auch die Optik zählt ja.

Was man an vielen Bücherschränken beobachten kann, bestätigte im vergangenen Jahr die Befragung von Borderstep. Die ist zwar nicht repräsentativ, brachte aber doch interessante Ergebnisse hervor. Deutlich mehr ältere als jüngere Menschen nutzen das Angebot, gemeinsam ist ihnen unterdurchschnittliches Einkommen. Frauen holen sich öfter Bücher als Männer. Wer immer sich Exemplare leiht, es sind Vielleser: Ein Drittel kommt öfter als zehn Mal im Monat zum Bücherschrank seiner Wahl. Am beliebtesten sind Romane und Sachbücher, gefragt, aber knapp Bücher für Kinder.

2000 Euro jährlich für Reparaturen

Als es 2005 losging mit dem ersten Bücherschrank in Stöcken, dachte im städtischen Kulturamt niemand, was sich entwickeln sollte. „Da ist ein Boom ausgebrochen, mit der wir nie gerechnet hätten“, sagt in der Rückschau Sigrid Ortmann, Bereichsleiterin Stadtteilkulturarbeit, „wir wurden überschwemmt mit Anfragen.“ Bezirksräte wollten Schränke, Paten standen ebenso bereit wie Finanziers. Die Stadt zahlt nur rund 2000 Euro im Jahr für Reparaturen.

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Nicht alle Zeitgenossen sind ja an Büchern interessiert. Selten wird ein Schrank mutwillig umgekippt oder mit Graffitis besprüht. Am Ihme-Zentrum steht, umgeben von Beton, seit einem Jahr ein Modell, ein Anblick wie Wasser in der Wüste. Tierärztin Britta Zogall kümmert sich um Ordnung im Sortiment. Sie liest selbst gern, und umso erschrockener war sie, als eines Nachts Vandalen alle Bücher in nahe gelegene Mülltonnen warfen. „Es kommt auch vor, dass Bücher geklaut werden, um sie auf dem Flohmarkt zu verkaufen.“ Zogall beeindruckt das nicht. Sie macht weiter.

Region liegt vorn

Folgt man einer Aufstellung der Internetseite openbookcase.org dann zählt die Region Hannover bundesweit zu den Spitzenreitern, was die Zahl der Bücherschränke angeht. Die Hauptstadt Berlin liegt vorn mit 73 Standorten, dann kommt die Region Hannover (55), Frankfurt/Main (46) ist nah dran. Auf der Website können Bürger öffentliche Bücherschränke hinzufügen. Die Betreiber verstehen darunter „eine Art kleine und freie Tauschbibliothek, die meistens rund um die Uhr erreichbar ist“.

HAZ

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