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Jugendliche in Frankreichs Vorstädten

Wut auf Französisch

Krawall und Remmidemmi: In den Vororten französischer Städte ist viel los. Die Jugendlichen dort haben kaum Chancen auf gut bezahlte Jobs oder eine Perspektive auf ein Leben außerhalb der 
Banlieue. 2005 eskalierte die angespannte Situation in Paris, und die Jugend ging auf die Straße – mit Steinen und Feuerzeugen

Krawall und Remmidemmi: In den Vororten französischer Städte ist viel los. Die Jugendlichen dort haben kaum Chancen auf gut bezahlte Jobs oder eine Perspektive auf ein Leben außerhalb der 
Banlieue. 2005 eskalierte die angespannte Situation in Paris, und die Jugend ging auf die Straße – mit Steinen und Feuerzeugen.

Hannover. Brennende Autos, umgekippte Mülltonnen, vermummte Jugendliche und verbarrikadierte Straßen – die Bilder aus den Pariser Vororten gingen um die Welt. In vielen Banlieues der französischen Hauptstadt gehörten 2005 Unruhen zum Alltag: Jugendliche ließen ihrem Frust über soziale Benachteiligung freien Lauf. Die Politik reagierte mit extremen Parolen: Der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy wollte die Vorstädte „mit dem Kärcher vom Gesindel befreien“.

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Ausschreitungen gibt es nun schon seit Längerem nicht mehr – auch wenn sich die Perspektiven für die jungen Menschen anscheinend kaum verbessert haben. Das Département Seine-Saint-Denis mit der Ordnungsnummer 93, im Kiez nur „neuf-trois“ (neun-drei) genannt, steht im Ballungsgebiet Paris als Metapher für sozial benachteiligte Viertel. Hier leben viele Immigranten und viele Menschen mit geringem Einkommen.

„Neuf-trois“ ist auch das Zuhause von Mehdi Bachir. „Mit 15 habe ich aufgehört, zur Schule zu gehen“, erzählt der 20-Jährige. Gerade macht er ein Praktikum im Jugendzentrum Antenne Jeunesse. „Die Schulen in Paris sind gut strukturiert, aber bei uns nicht“, sagt Sozialarbeiterin Souad Leroy. Wer es trotzdem durch die Schulzeit schafft, hat aber kaum bessere Chancen. „Auch mit Abitur wird es schwer, Arbeit zu finden. Die Arbeitgeber haben wegen unserer Anschrift ein schlechtes Bild von uns“, sagt der 18-jährige Nabil Igram. Schuld sind für ihn ganz klar die Vorurteile.

Tatsächlich können Kandidaten aus bestimmten Banlieues bei Bewerbungen schlechte Chancen haben. Es haben sich sogar schon Organisationen entwickelt, die Wohnsitzanmeldungen in Paris anbieten – Bewerber mit Adresse Seine-Saint-Denis werden angeblich schnell aussortiert. „Das macht mich wütend“, sagt Nabil. Ein ausländischer Name macht es Bewerbern möglicherweise noch schwerer: „Ein aus Algerien stammender Freund hat den Namen seiner französischen Frau angenommen, um sich zu bewerben, obwohl er einen sehr guten Studienabschluss hatte“, erzählt Jugendbetreuerin Leroy. „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit gelten nicht für jeden.“ Von seinen Vorurteilen kann sich das Departement nicht befreien. Das Bild der Franzosen von den Banlieues sei durchgehend negativ, sagt Martin Bouygues. Wer dort lebe, sei wirklich stigmatisiert: „Seit den Ausschreitungen von 2005 hat sich nichts an den Zuständen verbessert, aber die Stimmung ist nicht mehr so angespannt“, sagt der 19-Jährige. Nach seinem Abitur besucht er eine Kunstschule. Martin lebt in Le Perreux-sur-Marne bei Paris. Sein Viertel ist nur zehn Kilometer vom Banlieue Seine-Saint-Denis entfernt.

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Dort ist die Sozialarbeiterin Leroy seit 2001 in der Antenne Jeunesse aktiv. Sie kennt die Angst der Jugendlichen vor dem Misserfolg. „Sie denken, die Arbeitswelt ist nicht für sie gemacht. Sie haben keine Hoffnung und sind desillusioniert.“ Nach einer von der Zeitung „Le Monde“ veröffentlichten Studie suchen aus diesem Grund 900 000 Jugendliche in Frankreich zwischen 15 und 29 Jahren erst gar keinen Studienplatz oder Arbeit. Sie glauben, beides nicht zu finden.

„Seit ich hier arbeite, hat sich das Schulniveau verschlechtert“, berichtet Leroy außerdem. Mit den Kindern könne sie nicht einmal Scrabble spielen, weil sie einfach nicht genug Wörter kennen würden. „Den Kindern fehlt die Anleitung, sie kapitulieren vor den Aufgaben, die sie als zu schwer empfinden.“

Im Landesdurchschnitt ist gut jeder vierte Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos, in Seine-Saint-Denis fast jeder dritte. 54 Prozent der 19-Jährigen haben hier kein Abitur. Régis Cortesero, Forschungsbeauftrager beim nationalen Institut für Jugend und Bildung, sagt: „Die Vororte sind von einer Vielzahl von Problemen betroffen, die alle miteinander verwoben sind.“

Hinzu kommt wachsendes Misstrauen der Jugendlichen gegenüber Medien und Polizei. „Medien nehmen unser Äußeres als Grund, uns über einen Kamm zu scheren“, sagt der 18-jährige Samba Dembele, „sie denken, wir sind Diebe oder Randalierer.“ So werde ein falsches Bild von den Vororten gezeichnet. Nicht nur er, auch Mehdi Bachir berichtet von schlechten Erfahrungen mit der Polizei: „Die Polizisten sind die Gauner, nicht wir. Sie schlagen und beschimpfen uns. Sie machen, was sie wollen.“

Misstrauen herrscht auf beiden Seiten. Immerhin ist die Zahl gewaltsamer Übergriffe in Seine-Saint-Denis laut Statistik viermal höher als im nationalen Schnitt. Jugendarbeiterin Leroy erzählt außerdem von Jugendlichen, die auf illegalem Weg den Erfolg suchen. Laut Leroy kommt zu alldem noch ein großes Problem hinzu: „In den sensiblen Vierteln sind immer mehr Leute schwer bewaffnet.“ In zahlreichen Vierteln Frankreichs gebe es deswegen spezielle Zonen mit mehr Polizisten. Sicherer sei es dadurch aber nicht geworden, findet Leroy: „Früher oder später werden sich die Kinder dieser Waffen bedienen.“ Auch wenn Martin Bouygues in Le Perreux-sur-Marne meint, die Stimmung sei nicht mehr so angespannt, ist er sicher: „Wenn es wieder einen direkten Auslöser gibt wie die Ansage von Sarkozy, kann es jederzeit wieder riesige und gewalttätige Bewegungen geben.“ Jugendbetreuerin Leroy macht sich sogar noch größere Sorgen: „Heute würden solche Unruhen mehr einem Bürgerkrieg ähneln.“

Anika Maldacker und Marina Uelsmann

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„Gleichgültige Jugend“

Martin Palm (22) 
aus Hannover macht einen 
Freiwilligendienst in Straßburg.

Was denken die Franzosen über die Banlieues und die Menschen dort?

Die Leute sind von den Problemen der Banlieues weit entfernt. Mit einem Kollegen war ich einmal im Straßburger Banlieue Hautepierre. Wir sind mit dem Auto durchgefahren. Er hatte Angst, dass jemand das Auto anzündet, wenn wir aussteigen. Die Mittelschicht begegnet den Banlieues mit Gleichgültigkeit und Verachtung. Wer es sich leisten kann, zieht aus den Banlieues weg. Der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund ist dort sehr hoch.

Wie sieht es vor Ort aus?

Es gibt komplett verwahrloste Bereiche, da denkst du, dass du nicht in Frankreich bist. Ich habe gehört, dass es in Hautepierre kaum Polizei gibt, weil die Einwohner dort eh schon viel zu mächtig sind.

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Welche Einstellung haben die Jugendlichen, mit denen du Kontakt hast?

Viele Jugendliche hier sind gleichgültiger als die in Deutschland. Sie lassen die Dinge auf sich zukommen. Doch vor allem die Angst vor Entlassungen im Job ist relativ groß. Die Anzahl der zeitlich befristeten Arbeitsverträge ist gestiegen. Manche haben Arbeitsverträge, die immer nur für vier Wochen gültig sind. Es gibt zwar Jugendliche, die demonstrieren oder sich engagieren, aber wer einen Arbeitsplatz hat, ist eher passiv.

Interview: Marina Uelsmann

Gute Nachbarn

Leben wie Gott in Frankreich“ – so heißt es in einem Sprichwort. Doch das gilt nicht für alle Franzosen. Und schon gar nicht für viele Jugendliche: In unserem Nachbarland sind 26,5 Prozent von ihnen arbeitslos.

Um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, gehen vor allem französische Studierende häufig für ein Semester oder mehr ins Ausland. Im Wintersemester 2011/12 haben laut Statistischem Bundesamt 5664 französische Bildungsausländer an deutschen Hochschulen studiert.
Frankreich ist trotz der negativen Schlagzeilen aus den Vorstädten bei deutschen Studierenden sehr beliebt. Im Jahr 2010 waren dort insgesamt 6252 deutsche Studierende eingeschrieben. Frankreich liegt auf der Liste beliebter Länder für ein Auslandsstudium auf Platz sechs. Vielleicht erhoffen sich die Studenten ja, dass das Sprichwort etwas Wahres hat.

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zish

HAZ

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