ESC 2023: Schweden gewinnt – und Deutschland erlebt ein weiteres Debakel
Die schwedische Sängerin Loreen hat mit dem Titel „Tattoo“ den diesjährigen European Song Contest gewonnen.
© Quelle: Reuters
Europa hat seine Popkönigin gekrönt: Die schwedische Sängerin Loreen ist Siegerin des Eurovision Song Contests 2023 (ESC) in Liverpool. Sie überzeugte mit ihrer Elektropophymne „Tattoo“ im David-Guetta-Stil und einer mystisch-enigmatischen Tanzperformance unter einer Art stilisierter XXL-Dampfpresse. Es war ein Start-Ziel-Sieg für die haushohe Favoritin, die schon 2012 im aserbaidschanischen Baku mit „Euphoria“ den Song Contest gewonnen hatte.
Es ist der siebte ESC-Sieg für Schweden. Damit zieht das Land mit dem bisherigen Rekordhalter Irland gleich. Mehr noch: Loreen ist neben dem Iren Johnny Logan die einzige Interpretin, die den Song Contest jemals zweimal gewann. „Ich kann es nicht fassen!“, rief sie nach ihrem Sieg in der Liverpool Arena vor 7000 Zuschauerinnen und Zuschauern. Ihr Lied stammt aus der Feder desselben Songwriter-Teams, das auch schon 2012 am Werk war: Peter Boström und Thomas G:son.
Liverpool umarmt die Ukraine
Der lustige Finne Käärijä überzeugte als Publikumsliebling mit seinem Partykracher „Cha Cha Ca“ vor allem die Zuschauerinnen und Zuschauer. Der Lohn: Platz 2 – und spektakuläre 376 Punkte vom Publikum. Es war überhaupt ein ungewöhnlich partylastiger ESC: Die meisten der 26 Finalsongs gingen mit tanzbaren Uptempo-Nummern ins Rennen, darunter auch die Israelin Noa Kirel, die mit ihrem Dancetrack „Unicorn“ auf Platz 3 landete. Balladen waren rar gesät. Der Italiener Marco Mengoni („Due vite“) erreichte mit einem klassischen Italopop-San-Remo-Song Platz 4.
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Traten mit „Heart of Steel“ an: das Duo Tvorchi aus der Ukraine.
© Quelle: IMAGO/TT
Das ukrainische Duo Tvorchi erreichte mit seiner düsteren Durchhaltehymne „Heart of Steel“ im Rag-’n’-Bone-Man-Stil am Ende wieder die Top Ten. Das Gefühl, sich unbedingt grenzenlos solidarisch zu zeigen, war in diesem Jahr nicht so stark ausgeprägt. Der sechste Platz war aber ein gutes Ergebnis für einen Song, der zweifellos auch ohne die Umarmungsreflexe des Kontinents seine Fans gefunden hätte. „Sie werden uns mit Feuer in den Augen auferstehen sehen“, heißt es in „Heart of Steel“. „Sie werden ihre Köpfe neigen, / dann werden wir lachen und sie werden niederknien.“ Man musste nicht lange herumrätseln, wer mit „sie“ gemeint war.
„Ein bisschen Licht in düsteren Zeiten“
Nach dem Sieg des Kiewer Kalush Orchestras („Stefania“) vor einem Jahr in Turin organisierte Großbritannien als Ersatzgastgeber in der Beatles-Stadt quasi einen ukrainischen ESC auf britischem Boden. Von einem Fest „zwischen Borschtsch und Beats“ schrieb treffend die BBC. Dabei fiel es der ukrainischen Mitmoderatorin Julia Sanina „sehr, sehr schwer, immer in die Kameras zu lächeln“, sagte sie am Rande. Es gehe aber um „ein bisschen Licht in düsteren Zeiten“, einen Hauch von Hoffnung auch für die Menschen in den Kellern ihrer Heimat.
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Auffälliger als frühere ESC-Kandidaten aus Deutschland: Lord of the Lost mit Sänger Chris Harms (links).
© Quelle: Peter Kneffel/dpa
Und Deutschland? Endlich glaubten die hiesigen ESC-Verantwortlichen, mit den glitzerroten Glamrockern von Lord of the Lost mal einen Act ins Rennen geschickt zu haben, der nicht so unauffällig und artig war wie eine Dose Badeperlen. Das Quintett erregte in Liverpool durchaus Aufsehen. Am Ende aber blieb den Hamburgern ein Debakel nicht erspart. Letzter Platz für das feurige Alternative-Rock-Spektakel „Blood & Glitter“. Deutschland bleibt das Kellerkind des ESC – zwei mickrige Jurypunkte gab es aus Island, einen aus Tschechien. Die Zuschauerstimmen konnten den Lords dann auch nicht mehr helfen. Am Ende blieben nur 18 Punkte. Es ist ein Debakel.
Was war das bitte, Kroatien?
Der optisch radikalste Irrsinn war der kroatische Beitrag „Mama ŠČ!“. Was war das? Das Jahrestreffen der Horrorclowns? Pink Floyd’s „The Wall“ im Geiste von Freddie Mercury? Die trashige, tränentriefende Minioper der singenden Satiriker von Let 3 war auf den ersten Blick kolossaler Quatsch. Auf den zweiten aber erwies sich die abgefahrene Militärparodie samt Satan mit fauchenden Raketen als schwarzhumorige, bitterböse Attacke auf die Dämlichkeit von Autokraten. Die Botschaft: Diktatoren sind Clowns. Schöne Grüße nach Moskau.
Aber nicht nur für die Ukrainerinnen und Ukrainer, auch für die Engländer und Engländerinnen war der ESC eine emotionale Angelegenheit. Kaum eine Ausrichterstadt hat den ESC je heftiger umarmt als Liverpool. „Ein solches Publikum habe ich beim ESC noch nie erlebt“, sagte BBC-Kommentator Graham Norton. Es schien, als hießen viele brexitmüde Britinnen und Briten die Gelegenheit willkommen, sich wieder einmal als Teil des Kontinents zu fühlen. 58 Prozent der Liverpoolerinnen und Liverpooler haben den Brexit 2016 abgelehnt. An ihnen lag es also nicht. Es feiert sich offensichtlich doch besser in Gesellschaft statt in der Einsamkeit der „splendid isolation“.
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Pop aus dem Käfig: Noa Kirel aus Israel (Mitte) mit Tänzern beim Eurovision Song Contest in Liverpool.
© Quelle: IMAGO/Cover-Images
Wenn sich aus dem von der BBC perfekt inszenierten Spektakel ein roter Faden herauslesen ließ, dann, dass dem Kontinent nicht nach Gram zumute war, sondern nach Eskapismus, nach Clubsounds, Glitzer und Glamour.
Großes Thema: Female Empowerment
Das dritte große Thema des Abends nach dem Krieg und der Lust auf Ablenkung war Female Empowerment. Die tschechische Schwesternschaft Vesna warb als stabiles, altrosafarbenes Sextett für weibliche Selbstertüchtigung („My Sister’s Crown“, Platz 10). Die Britin Mae Muller strafte einen untauglichen Verflossenen mit einem optimistischen Verpiss-dich-Song im Stil von Lily Allens fröhlichem „Fuck You“ ab, der gewiss auch Gloria Gaynor gefallen hätte („I Wrote a Song“, Platz 25). Die Österreicherinnen Teya & Salena (Platz 15) fragten keck: „Who the hell is Edgar?“ Und auch Loreens Song ist am Ende ein dicker musikalischer Strich unter eine dysfunktionale Beziehung. Die Botschaft an die Männerwelt: Danke, nein – so nicht, ihr Idioten.
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Der mit Abstand irrwitzigste Beitrag des ESC 2023: die kroatische Band Let 3.
© Quelle: Croatia ESC
Was bleibt in Erinnerung von diesem Song Contest? Der welpenäugige Schweizer Remo Ferrer, umtänzelt von einer Art lebendem Bandsalat (Platz 20). Eine Eurovisions-Retortendiva mit Trickkleid (yeah!) aus Polen, die nach Musik- und Modelkarriere immer noch Schmuckdesignerin werden kann (Platz 19). Eine französische Königin der Nacht auf einer Hebebühne, am Rücken angepflockt wie die Ziege in „Jurassic Park“ (La Zarra, „Évidemment“, Platz 16). Und ein pastellfarbener Cowboy aus Belgien, der ein bisschen wirkte wie der nichtsnutzige dritte Sohn eines texanischen Viehbarons, der mit Papas Geld eine Karriere als Influencer-Schrägstrich-Musiker anstrebt (Gustaph, „Because of You“, Platz 7).
2024 kehrt Luxemburg zum ESC zurück
Nach den Unregelmäßigkeiten bei den Jurywertungen im Vorjahr hat die Europäische Rundfunkunion (EBU) als Veranstalterin des ESC diesmal in den Halbfinals auf Jurys verzichtet. Sie kamen nur im Finale zum Einsatz – und standen unter besonderer Beobachtung strengen Fachpersonals, was seltsame Häufungen oder verdächtige Platzierungen anging. Bisher sind keine neuen Mauscheleien bekannt geworden. 2022 beim Song Contest in Turin hatte die EBU noch während des Finales in der Nacht vom 14. auf den 15. Mai die Abstimmungsergebnisse der Jurys aus Aserbaidschan, Georgien, Montenegro, Polen, San Marino und Rumänien nach der Generalprobe des zweiten Halbfinales für nichtig erklärt. Es seien „bestimmte unregelmäßige Abstimmungsmuster“ festgestellt worden. Von „Absprachen“ war die Rede.
Erstmals durften alle Länder der Erde beim Eurovision Song Contest abstimmen. Die Stimmen aller nicht teilnehmenden Länder wurden dabei addiert und gemeinsam als „ein Land“ gewertet. Ist das ein erster Schritt in Richtung „World Vision Song Contest“? Immer wieder gibt es Gerüchte, der ESC könnte noch mehr Länder unter seine Fittiche nehmen. Zuvor freilich gibt es im kommenden Jahr erst mal einen Rückkehrer: Nach 23 Jahren Pause kehrt Luxemburg 2024 zum Song Contest zurück.
Und Deutschland? Wird sich radikal neu orientieren müssen, was den Song Contest angeht. Es ist schon erstaunlich, wie man den Zeitgeist über einen so langen Zeitraum so konsequent verfehlen kann.